Der „Kieler Tatort“ im Check
(Kiel) – Der letzte „Tatort“ vor der Sommerpause spielt während der Kieler Woche und wurde gestern Abend um 20:15 Uhr während der Kieler Woche von der ARD gesendet. Statt mit Jubel, Trubel und Heiterkeit wartete „Das Fest des Nordens“ allerdings mit Verzweiflung, Selbsthass und brutalen Morden auf – ein Fest für die Zuschauer!
Zur Handlung
Roman (Mišel Maticevic) ist ein verzweifelter Mann, der seine Töchter liebt und den Rest der Welt verachtet. Unglücklicherweise ist Roman nicht der autoaggressive Typ, sondern trägt seinen Hass in die Welt hinaus: Erst erschlägt Roman seine Geliebte, weil die ihn nervt, später ersticht er einen Drogendealer, der seiner toten Geliebten seinen Unterschlupf verraten hatte, mit einem Schraubenzieher. Auf der verzweifelten Suche nach dem nötigen Kleingeld, um seine Töchter zu kidnappen und die Stadt zu verlassen, hinterlässt Roman eine Spur der Verwüstung im feierwütigen Kiel, wo gerade das namensgebende „Fest des Nordens“, die Kieler Woche, stattfindet.
In Feierlaune ist allerdings in diesem „Tatort“ niemand wirklich, auch und vor allem die Kommissare nicht: Borowski (Axel Milberg) hängt schwer traumatisiert an der Flasche und sympathisiert mit dem lebensmüden Mörder, Brandt (Sibel Kekilli) hat ein Tablettenproblem und würde die Feierzombies auf Kiels Straßen am liebsten mit ihrem Golfschläger in den alkoholgetränkten Boden prügeln. Je näher die beiden Kommissare dem Täter kommen, desto offener treten ihre Differenzen zutage – bis die Lage schließlich eskaliert.
Die eigentliche Botschaft
Romans Langstrecken-Amoklauf ist eine Reaktion auf den Wahnsinn der Normalität: Wer einmal hinter die Kulissen geschaut hat, findet schwer wieder ins reale Leben zurück. Doch während 99,9 Prozent aller Menschen eine andere Möglichkeit finden, mit der ernüchternden Wahrheit umzugehen, wechselt Roman in den (Selbst)Zerstörungsmodus. Dass Borowski mit dem Mörder sympathisiert, spricht Bände – und zeigt, wie nahe wir alle am Abgrund stehen.
Darüber wird in der Mittagspause geredet
Über Sibel Kekillis letzten Auftritt im Kieler „Tatort“ wird jedenfalls garantiert nicht in der Mittagspause geredet – schlicht und ergreifend weil es so gar keinen Hinweis darauf gibt, dass das ihr letzter Fall war. Dafür erzeugt die Szene, in der ein schmieriger Geldverleiher sein Baby als menschlichen Schutzschild benutzt, enormen Redebedarf – vor allem wegen der enormen Beiläufigkeit, mit der die Gewalt eskaliert.
Der Plausibilitätsfaktor
Hoch. Ganz egal, wie explizit die Gewalt dargestellt wird, sie blieb immer nachvollziehbar, weil Regisseur Jan Bonny es meisterhaft versteht zu erzählen, was die Charaktere antreibt. Und dass ein Fest wie die Kieler Woche zu einer regelrechten Sommerdepression geradezu einlädt, muss man nun wirklich niemandem erklären.
Die Bewertung
8 von 10 Punkten. „Das Fest des Nordens“ war ein mutiger und wunderbar düsterer Abschluss der laufenden „Tatort-Saison“ und macht jetzt schon Lust auf den kommenden Herbst und auf den Beginn der neuen Saison.
von
Günter Schwarz – 19.06.2017