Es wird gebaut, sanft renoviert oder richtig geklotzt: Die Konzerthäuser Europas, worunter sich auch die Lübecker MUK und das Kieler Schloss als Veranstaltungsort des Schleswig-Holstein Musikfestivals befinden, rüsten sich für die Zukunft. Die Ziele: weniger Eitelkeit, mehr Publikum. Ob’s klappt? Sicher ist: Man lebt nicht von der Musik allein.

Viele weitere europäische Städte investieren ebenfalls in neue Häuser für klassische Musik mit dem Ziel, ein neues und gemischteres Publikum zu finden. Architektur spielt eine entscheidende Rolle: Eindrückliche Bauten wie die Elbphilharmonie in Hamburg oder die Tonhalle Maag in Zürich ziehen auch Klassik-Neulinge an. Die Konzerthäuser integrieren vermehrt andere Treffpunkte wie Bibliotheken oder Cafés und sogar Hotels, um so Schwellenängste abzubauen.

Heute reicht das Glück nur für neun Personen. Neun Personen, die seit Stunden hier unten im kleinen, stickigen Kartenbüro der Hamburger Elbphilharmonie auf die wenigen Restkarten gewartet haben, die es manchmal gibt. Neun Karten also heute, neunmal endlich Einlass in die heilige Halle der klassischen Musik: den grossen Saal der Elbphilharmonie. Neunmal Glück – und 38 Mal Enttäuschung bei jenen, die hier fast ebenso lang gehofft und gewartet haben und leer ausgingen.


Auch ohne Musik ein Genuss: Die Elbphilharmonie lockt mit ihrer Aussichtsplattform ein gemischtes Publikum an.
55.000 Anfragen – bei 2100 Sitzplätzen im großen Saal. Dieses Schauspiel wiederholt sich im Erdgeschoss der Hamburger Elbphilharmonie Abend für Abend. Mal mit weniger, mal mit mehr Hoffenden. Im regulären Vorverkauf waren alle klassischen Konzerte bis im Sommer 2018 binnen Minuten ausverkauft.
Woher kommt diese große Sehnsucht, dabei sein zu können in dem als veraltet verschrienen Konzertritual namens Sinfoniekonzert?

Szenenwechsel in einen „DDR-Palast“, der die Besucher anzieht: Der Kulturpalast im sächsischen Dresden ist umringt von barocken Prachtbauten. Die Dresdner Frauenkirche, das Schloss, die Semperoper – sie alle ziehen jährlich Millionen Touristen an.

Bei den Einheimischen ist aber ein ganz anderer Bau beliebt: der Kulturpalast. Das denkmalgeschützte Gebäude von 1969 gilt als eines der bedeutendsten Häuser der DDR-Architektur.


Der sozialistische Kulturpalast von 1969 ist im Heute angekommen – dank geschickter Nutzung des Hauses.
Drinnen im gläsernen Palast, im großen Saal, gab es Kultur für Jedermann: Konzerte und Tanzveranstaltungen sowie Tagungen und Kongresse. Die Halle war aber akustisch ungünstig. Sie erhielt nun einen gänzlich neuen Innenausbau: einen modernen Konzertsaal mit exzellenter Akustik für klassische Musik.
Auch hier sind seit der Eröffnung im April dieses Jahres nahezu alle Konzerte ausverkauft. Am Tag der Offenen Tür Ende August, als die Dresdnerinnen und Dresdner endlich freien Zugang hatten zum neuen Saal, mussten die Tore zeitweilig sogar geschlossen werden. Der Kulturpalast konnte den Grossandrang des Publikums nicht mehr aufnehmen.

Aber Dresden und Hamburg sind keine Einzelfälle. Auch andere europäische Städte investieren erfolgreich in neue Häuser für die klassische Musik.
Allein in diesem Jahr sind neben Hamburg und Dresden auch in Paris (La Seine Musicale) und in Berlin (Pierre Boulez Saal) mit viel Applaus neu gebaute Säle eröffnet worden.

Hinzu kommen aus den vergangenen Jahren das LAC in Lugano (Lugano Arte Cultura), das Konzert- und Kulturhaus im bayerischen Blaibach, das Konzerthaus im polnischen Katowice und das Konzert- und Opernhaus Harpa im isländischen Reykjavik.


Konzerthaus Harpa in Reykjavík: 2011 eröffnet, beherbergt das Gebäude sowohl das Isländische Sinfonieorchester als auch die isländische Oper. Künstler Olafur Eliasson hat die Fassade gestaltet und damit ein neues Wahrzeichen der Hauptstadt Islands geschaffen.
Weitere Konzerthäuser sind in Planung, etwa in München oder in Genf (Cité de la Musique). Andernorts renovieren Städte die bestehende Bausubstanz die Konzertsäle zu wahren Konkurrenten von Fußballstadien machen, mit denen man beim Stimmvolk Bedürfnisse befriedigen kann.

Woher kommt diese Investitionsfreudigkeit der Stadtverantwortlichen? Dazu sagt Enno Isermann, Pressesprecher der Behörde für Kultur und Medien der Stadt Hamburg: „Wir haben sogar zwei Fussballvereine: den Hamburger Sportverein (HSV) und den FC St. Pauli – und dennoch besuchen deutlich mehr Menschen Konzerte, Opern und Theatervorstellungen als Fussballspiele! Dass immer mehr bedeutende Gebäude für klassische Konzerte gebaut werden, hängt wohl auch damit zusammen: Man erkennt, welchen Wert Kultur in einer freien Gesellschaft hat.“

Offensichtlich gibt es auch einen Bedarf. „Eine halbe Million Konzertbesucher hat die Elbphilharmonie seit ihrer Eröffnung im Januar 2017 besucht – das sind mehr, als Hamburg früher in einer ganzen Saison hatte“, sagt Tom R. Schulz, Pressesprecher der Elbphilharmonie.


Konzerthaus der alten Schule: die Hamburger Laeiszhalle
Er hatte anfangs Zweifel, ob die vielen Plätze in der Elbphilharmonie tatsächlich gefüllt werden können. Ein Blick auf die Laeiszhalle, das altehrwürdige Konzerthaus in Hamburg, zeigt: Bis 2016 war diese nur selten ausverkauft.

„Doch selbst das hat sich geändert“, sagt Schulz. „Die Laeiszhalle hat überhaupt nicht unter dem Ansturm auf die Elbphilharmonie gelitten. Die Hamburger Symphoniker, das Residenzorchester der Laeiszhalle, hatten von der Publikumsauslastung her die beste Saison seit ihren Anfängen in den 1950er Jahren. Da frage ich mich: ,Woher kommt die plötzliche Begeisterung für klassische Musik?’“

Fragt man Besucher in der Elbphilharmonie, dann ist zumindest hier klar, die Architektur ist ein deutlicher Anziehungspunkt. Das Auge hört mit. Konzertbesucher Eberhard Mieschke aus Hamburg hat es trotz Großandrang geschafft, in den letzten neun Monaten seit Eröffnung der Elbphilharmonie bereits 17 Konzerte zu besuchen.

Zu Hause hat er sich den Saalplan an die Wand gepinnt und all die Plätze, für die er schon Karten hatte, mit Stecknadeln markiert. „Es klingt ja überall anders“, sagt er in der Pause. „Ich werde noch Jahre damit beschäftigt sein, diesen Saal kennenzulernen“, lacht er. Heute sitzt Eberhard Mieschke in Rang Z, ganz zuoberst, 25 Meter über der Bühne. Hier muss man schwindelfrei sein, um den freien Blick auf die Bühne genießen zu können. „Hier oben mischt sich der Klang ganz wunderbar“, erzählt er. „Unten hat er mehr Trennschärfe. Da höre ich ganz genau, ob nun die Melodie links von den ersten Geigen oder rechts von den zweiten Geigen kommt. Das ist wie ein 3D-Film“, lacht er.

Auch die Musiker des NDR Elbphilharmonie Orchesters, die an diesem Abend die 5. Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch spielen, sind von dieser neuen Art des Hörens überzeugt. „Da ändert sich auch der Geschmack: Das Publikum will nicht mehr diesen Mischklang. Sondern das Transparente“, sagt Volker Donandt, Kontrabassist im NDR Elbphilharmonie Orchester. Das Transparente, das ist jener von manchen Kritikern als gnadenlos und trocken beschriebene Klang, den der international renommierte Akustiker Yasuhisa Toyota für die Elbphilharmonie kreiert hat.

Der Saal der Architekten Herzog & de Meuron ist im sogenannten Weinbergstil gebaut: zahlreiche Terrassen statt ein grosser Block Sitzplätze im Parkett und ein zweiter im Balkon. Dieser Baustil fächert den Klang auf. Und er ermöglicht eine hervorragende Sicht auf die Bühne – von allen Plätzen aus.


Jeder sieht, woher die Klänge kommen: Der terrassenförmig angelegte Konzertsaal der „Elphie“
„Das ist demokratisches Hören“, sagt Pressesprecher Tom R. Schulz. „Sie hören und sehen von jedem Sitzplatz aus sehr gut. Natürlich nicht überall gleich, aber überall sehr gut“, ist er überzeugt. „Das hilft vor allem bei zeitgenössischer Musik: Wenn man sehen kann, von welchem Instrument die Klänge kommen, dann versteht man diese Musik leichter, als wenn man sie nur hört. Dies gelte auch für alle klassischen Werke“, sagt Kontrabassist Volker Donandt.“Das Publikum will hören, was da in der Bratsche passiert, oder hinten im Fagott. Mit so einem neuen Saal können Sie das hören. In alten Sälen wie der Laeiszhalle ist das nicht möglich.“

Auch Besucher Eberhard Mieschke sieht viele Vorteile im neuen Saal: „In der alten Laeiszhalle klingt es zwar auch schön. Aber dort gibt es kaum günstige Tickets mit guter Akustik. Hier in der Elbphilharmonie höre ich ganz oben fantastisch – für 15 Euro!“

Es ist also die Architektur, die Leute anzieht – darunter viele Klassik-Neulinge. 3,5 Millionen Menschen haben bisher die Plaza der Elbphilharmonie besucht: die Aussichtsplattform in 37 Metern Höhe mit fantastischer Aussicht auf Hamburg.


Musik wird zur Nebensache: Besucher strömen auf die Ausbildungsplattform der Elbphilharmonie.
Wer kann, geht dann auch ins Konzert. „Wir spüren das bei den Konzerten. Es gibt mehr Menschen, die mit den Konzertritualen nicht vertraut sind. Die etwa zwischen den Sätzen klatschen. Oder auch mal nach der Pause rausgehen.“ Stören tue das nicht, im Gegenteil: „Seit Jahren wird um die Zukunft der Klassik gebangt, wird prophezeit, dass das Publikum ausstirbt. Jetzt erleben wir das Gegenteil. Das ist doch wunderbar“, sagt Schulz.

Auch in Dresden freut man sich über den Publikumsandrang im Kulturpalast. Dresden liegt wie Hamburg zwar auch an der Elbe, doch der neue Konzertsaal wurde hier nicht dramatisch ins Wasser hineingebaut – sondern in ein bestehendes Gebäude integriert. Es gibt also keine neue Außenhülle, die durch spektakuläre Optik die Besucher anzieht. Dafür ist das Haus bereits bestens ins Stadtleben integriert und als Ort der Musik etabliert.

1969 wurde der Kulturpalast erstmals eröffnet. Im Bau des Architekten Wolfgang Hänsch war Demokratisches Hören von Anfang an das Ziel: Der Kulturpalast sollte für alle da sein. Gebaut wurde daher ein Mehrzwecksaal, in dem jede Kunstsparte Platz fand. Nur die Akustik war der klassischen Musik gar nicht zuträglich: Im breiten Saal verflog der Klang der Dresdner Philharmonie.


Im Dresdner Kulturpalast von 1969 herrscht seit jeher der Leitgedanke «Kultur für Jedermann» (Bild von 1973)
Als sich die Stadt für den neuen Innenausbau des Kulturpalastes entschied, war klar: Es sollte auch diesmal demokratisch zugehen. Konkret bedeutet das wohl ein Unikum in der Klassik-Landschaft: Eine Delegation des Orchesters reiste mit den Architekten und dem Akustik-Team durch die bedeutendsten Säle Europas, um gemeinsam eine Wunsch-Akustik für den neuen Saal zu kreieren.


Demokratischer Kulturpalast: Die terrassenartige Anordnung der Sitzplätze ermöglicht allen Besuchern eine gute Sicht
Dunkel und warm sollte er sein, wie der typische Dresdner Klang der Philharmonie. Der Konzertsaal sollte ebenfalls im Weinbergstil gebaut werden – demokratisches Hören eben. „Das war damals eine bewusste Entscheidung vom Orchester, dass wir einen terrassenförmig angelegten Saal haben wollen“, sagt Robert-Christian Schuster, Fagottist bei der Philharmonie Dresden. „Wohl wissend, dass dies für die Akustiker eine grössere Herausforderung bedeutet. Aber die Gesamtatmosphäre eines solchen Raumes ermöglicht uns einen ganz anderen Kontakt mit dem Publikum. Das merken wir schon jetzt nach den ersten Monaten im neuen Saal.“

Um die Schwellenängste gegenüber der Hochkultur abzubauen, hat sich die Stadt bewusst für eine Mantelnutzung des Kulturpalastes entschieden. Anders als in der Elbphilharmonie Hamburg, wo die Mantelnutzung neben der öffentlichen Aussichtsplattform aus einem Restaurant, einem Luxus-Hotel und Privatwohnungen besteht, hat im Kulturpalast die Städtische Bibliothek ihr Hauptquartier bezogen.

Denn wie Umfragen ergaben, besucht jede Dresdnerin und jeder Dresdner mindestens einmal im Jahr die städtische Bibliothek. Und wer so schon einmal die schönen Foyers des Kulturpalastes betreten hat, der geht – so die Hoffnung – leichter einen Schritt weiter in den Konzertsaal, um klassische Musik zu hören.


Marmor sucht man hier vergeblich: das Foyer des Dresdner Kulturpalasts.
von

Günter Schwarz – 01.10.2017