(Ankara) – Was haben Erdoğan und das polnische Gesundheitsministerium gemeinsam? – Beide rufen junge Leute dazu auf, sich zu vermehren. Doch während die Polen es zwar „wie die Kaninchen“ aber freiwillig machen sollen, müssen junge Musliminnen laut Erdoğan einem Befehl gehorchen.

„Was sagen mein Gott und unser Prophet? Der Befehl ist klar und deutlich. Vermählt Euch, heiratet und vermehrt Euch“, sagte Erdoğan im Präsidentenpalast in Ankara vor jungen Frauen aus 50 muslimischen Staaten. „Es ist Pflicht eines Muslims, sich zu vermehren.“

„Natürlich ist die Mutterschaft das größte Geschenk Gottes an die Frauen“, sagte Erdoğan. „Die Mutterschaft zu leugnen heißt, das Schicksal, also die Schöpfung zu leugnen. Aber die muslimische Frau ist nicht nur eine gute Mutter, sondern wenn nötig auch eine bahnbrechende Wissenschaftlerin, Politikerin, Lehrerin und sogar eine kühne Kriegerin.“

Im Frühjahr hatte Erdoğan Türken in Europa dazu aufgerufen, ihren Einfluss auszuweiten und mehr Kinder zu zeugen. „Macht nicht drei, sondern fünf Kinder, denn Ihr seid die Zukunft Europas“, hatte er gesagt – was darauf hinauslaufen soll, dass die Türken die europäischen Staaten durch „Unterwanderung“ übernehmen sollen.

Wenige Stunden zuvor hatte Erdoğan noch versucht, Anhänger des säkularen Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk zu umwerben – die seine Aussagen zur muslimischen Frau mit Befremden aufnehmen dürften. Atatürk, der am 10. November vor 79 Jahren verstorben war, hatte die Türkei nach Westen ausgerichtet. Säkulare Kritiker werfen Erdoğan seit Jahren vor, das Rad zurückdrehen zu wollen und die Türkei zu islamisieren.

In jüngster Zeit ist jedoch zu beobachten, dass Erdoğan den Gründer der Republik und deren ersten Präsidenten wieder verstärkt in den Vordergrund stellt. Zum gestrigen Todestag lobte Erdoğan Atatürk [Mustafa Kemal Pascha, genannt Atatürk (Vater der Türken) verstarb am 10. November 1938 in Istanbul infolge von Alkoholismus an einer Leberzirrhose] nun in den höchsten Tönen.

Er sprach von der „unendlichen Achtung unseres Volkes“ für den „Gründungsvater unserer Geschichte“. Und Erdoğan nutzte die Gelegenheit, um die wichtigste Oppositionspartei – die von Atatürk gegründete CHP – in ihrem Kernverständnis anzugreifen: Er sprach der kemalistischen Partei das Recht ab, Hüterin von Atatürks Erbe zu sein. Im Gegenteil: Die von der CHP betriebene Politik habe nichts mit dem „Atatürk in den Herzen unseres Volkes“ zu tun, sagte er. Man werde nicht erlauben, dass die CHP „unserem Volk Atatürk stiehlt“.

Die CHP hält die neue Vereinnahmung Atatürks durch den islamisch-konservativen Präsidenten für ein durchsichtiges Manöver: Die Partei wirft Erdoğan vor, seine plötzliche Zuneigung zu Atatürk aus wahltaktischen Gründen entdeckt zu haben.

von

Günter Schwarz – 11.11.2017