(Berlin) – Die vierwöchigen Jamaika-Sondierungsgespräche sind in der Nacht vorerst gescheitert. Die FDP zog sich Sonntagnacht kurz nach Mitternacht aus den Gesprächen mit CDU, CSU und den Grünen zurück. Es habe keinerlei Annäherung gegeben, da bei den Beteiligten das Vertrauen gefehlt habe, so FDP-Chef Christian Lindner. „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zur regieren“, sagte Lindner.

Am Sonntag sei keine neue Bewegung in den Verhandlungen erreicht worden, es habe vielmehr Rückschritte gegeben. Die vier Koalitionspartner hätten „keine gemeinsame Vorstellung von der Modernisierung des Landes“ und auch keine gemeinsame Vertrauensbasis entwickeln können. Die FDP sei aber für eine Trendwende gewählt worden, sagte Lindner.

Vertrauen oder eine gemeinsame Idee wären die Voraussetzung für eine stabile Regierung gewesen. „Den Geist des Sondierungspapiers können und wollen wir nicht verantworten“, fügte Lindner hinzu. „Nach Wochen liegt heute Papier mit zahllosen Widersprüchen, offenen Fragen und Zielkonflikten vor“, sagte er. Wo es Übereinkünfte gebe, seien diese mit viel Geld der Bürger oder Formelkompromissen erkauft worden.

Die Unterschiede zwischen CDU, CSU und FDP wären überbrückbar gewesen, so Lindner weiter. Hier sei neue politische Nähe gewachsen. Im Lauf des Sonntags seien aber erzielte Kompromisslinien infrage gestellt worden. „Wir werfen niemanden vor, dass er für seine Prinzipien einsteht. Wir tun es aber auch“, sagte Lindner.

Sollte die SPD bei ihrer Aussage bleiben, der Union nicht als Alternative für eine erneute große Koalition zur Verfügung zu stehen, bieten sich derzeit nur eine Minderheitsregierung der Union oder eine Neuwahl an. Einer Koalition aus CDU/CSU und FDP fehlen 29 Sitze zur Mehrheit im deutschen Bundestag, Schwarz-Grün fehlen 42 Sitze zur Mehrheit.

Die deutsche Kanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel sowie CSU-Chef Horst Seehofer traten gemeinsam vor die Presse. Merkel bedauerte in ihrer Stellungnahme den Abbruch. Von Seiten der CDU und CSU sei „nichts unversucht“ geblieben, eine Lösung zu finden, sagte sie. Merkel zeigte sich überzeugt, dass auch beim Streitthema Migration ein Kompromiss mit den Grünen möglich gewesen wäre. Die sondierenden Parteien hätten sich auf einem „Pfad befunden, auf dem wir hätten eine Einigung erreichen können.“ Mit Abstrichen, wie Merkel ergänzte.

Sie werde nun den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier kontaktieren und schauen, „wie sich die Dinge weiterentwickeln“, so Merkel weiter. CDU und CSU würden aber Verantwortung für Deutschland übernehmen. Sie glaube, die Mehrheit der Deutschen hätte sich gewünscht, „dass wir zusammenfinden. Dem fühlen wir uns verpflichtet.“ Sie wolle das Land nun durch die schwierigen Zeiten führen.

Auch Seehofer rechnete laut eigenen Worten mit einem positiven Sondierungsergebnis. „Es ist schade, dass es am Ende nicht gelungen ist, dieses zum Ende zu führen, was zum Greifen nahe war.“ Er dankte Merkel explizit für ihren persönlichen Einsatz bei den Verhandlungen. „Danke, Angela Merkel, für diese vier Wochen.“ Die Verhandler der Unionsparteien hätten Merkel mit einem großen Applaus gewürdigt, betonte er.

Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner hatte den Rückzug im Kurznachrichtendienst Twitter zuvor als „gut vorbereitete Spontanität“ bezeichnet. „Das kann man so machen, wie die FDP es tat, muss man aber nicht.“ Man werde aber weiter respektvoll mit allen Parteien umgehen. „Anständig wäre es gewesen, wenn alle Parteivorsitzenden gemeinsam den Abbruch hätten verkünden können“, schrieb sie.

Die Grünen reagierten mit Unverständnis. „Wir waren zu dieser Verständigung bis zur letzten Sekunde bereit“, so Grünen-Chef Cem Özdemir, die FDP nicht. Vieles sei in den Gesprächen erreicht worden und die Grünen seien bei vielen Themen bis an die Schmerzgrenze „und manchmal auch über die Schmerzgrenze hinaus gegangen“. Die Grünen wären für die Koalition bereit gewesen, die FDP nicht, und das schon von Beginn der Verhandlungen an. so Özdemir. Laut Grünen-Chefunterhändlerin Katrin Göring-Eckardt war man nur noch „in wenigen Punkten“ auseinander. Auch sie dankte Merkel ausdrücklich.

Grünen-Unterhändler Jürgen Trittin schloss eine Minderheitsregierung von Union und Grünen aus: „Deutschland muss stabil regiert werden, und dafür bedarf es einer Mehrheit im Parlament“, sagte Trittin im ZDF. Er selbst könne die laut FDP fehlende Basis für Zusammenarbeit und Vertrauen nicht nachvollziehen. Die Verhandlungen seien zwar ein komplizierter Prozess gewesen, „aber es war nicht unmöglich.“

Schon zu Mittag hatte es geheißen, es herrsche dicke Luft. Beklagt wurden fehlendes Vertrauen, Durchstechereien, persönliche Angriffe und Unwahrheiten in der Öffentlichkeit. Als Möglichkeit stand neben einem Scheitern auch im Raum, die Beratungen zu unterbrechen und beispielsweise in zwei Wochen fortzusetzen.

CDU, CSU, FDP und Grüne hatten am Sonntag einen letzten Versuch unternommen, sich auf die Grundzüge eines gemeinsamen Regierungspapiers zu einigen. Unions-Politiker äußerten sich am Abend noch optimistisch, dass eine Einigung gelingen könnte. Zwischenzeitlich gab es auch Meldungen, wonach es zumindest in einigen Punkten eine Annäherung gab.

Der CSU-Wirtschaftspolitiker Hans Michelbach sorgte kurz vor dem Abbruch für Verwirrung, als er die Einigung auf eine Abschaffung des Solidaritätszuschlags bis 2021 verkündete sowie eine Ausweitung der Liste der sicheren Herkunftsländer. Wenige Minuten später widerrief Michelbach allerdings seine Aussagen.

von

Günter Schwarz – 20.11.2017