(Karlsruhe) – Bundesverfassungsgericht verschiebt Entscheidung zu Hartz-IV-Sanktionen. Davon betroffen waren in diesem Jahr wieder Hunderttausende, besonders häufig Migranten. Jobcenter setzten auch Tausende Minderjährige und Eltern kleiner Kinder undf gar von Babies auf Null.

Essen, Kleidung, Strom, Bahnfahrkarten, die Telefonrechnung, Reparaturen: alles muss ein alleinstehender Bedürftiger in Deutschland von 409 Euro bezahlen. Diesen Betrag gestehen ihm die „christlichen“ und „sozialen“ Regierungsparteien aus CDU/CSU und SPD nach den Regeln von Hartz IV und der Sozialhilfe zu. Ab Januar 2018 werden es 416 Euro sein. Mühsam hatte die Bundesregierung die Ausgaben der ärmsten 15 Prozent der Bundesbürger nochmals klein gerechnet, um auf diese Summe zu kommen. Sie gilt als physisches und soziokulturelles Existenzminimum. Doch rund 420.000 der 4,3 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Bezieher – hinzu kommen etwa zwei Millionen mitleidende Kinder – hatten auch 2017 zeitweise nicht einmal das zur Verfügung. Sie wurden von Jobcentern sanktioniert, etliche von ihnen sogar mehrfach für jeweils ein Vierteljahr.

Dürfen Behörden ihren Klienten das Existenzminimum bis auf Null reduzieren, wenn sie eine Maßnahme ausschlagen, ein Arbeitsangebot ablehnen oder schlicht nur acht statt zehn Bewerbungen monatlich vorweisen können? Dürfen Sachbearbeiter in Jobcentern mit diesem Druckmittel Erwerbslose in jeden noch so schlecht bezahlten Job nötigen?

Eigentlich sollte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) noch vor dem Jahreswechsel darüber entscheiden. Doch Betroffene hofften vergeblich darauf, dass Karlsruhe 13 Jahre Sanktionspraxis – ausgelöst 2004 durch den „sozialen“ SPD-Bundeskanzler, Gerhard Schröder, der jetzt zu den „Russen-Bonzen“ im Gasgeschäft gehört – gegen die Ärmsten ganz oder mindestens teilweise kippen könnte.

Nun steht fest: Das höchste Gericht hat seine Entscheidung wegen angeblicher Überlastung vertagt. Und die Jobcenter sanktionieren munter weiter. Betroffen sind selbst Minderjährige und Eltern mit kleinen Kindern jnd Babies.

Karlsruhe verschiebt Urteil auf unbestimmte Zeit

„Eine Entscheidung zu den Hartz-IV-Sanktionen ist wohl dieses Jahr nicht mehr zu erwarten“, sagte BverfG-Sprecher Michael Allmendinger auf Nachfrage der Autorin dieses Textes. Grund sei unter anderem ein unerwartet hohes Aufkommen an anderen Fällen, über welche die Richter zu befinden hatten. „Ich nenne da nur einmal die (Anmerk. Der Redaktion: unerhört wichtige) Sache mit dem dritten Geschlecht“, so Allmendinger. Dabei leide auch das BVerfG unter Personalnotstand. „Da kann es schon mal zu Verzögerungen kommen.“

Hintergrund ist ein Vorlagebeschluss des Sozialgerichts im thüringischen Gotha. 2015 hatte dieses den Fall eines zuerst zu 30, kurz darauf zu 60 Prozent sanktionierten Mannes verhandelt. Der Kläger musste drei Monate von 274 statt damals 391 Euro leben. Ein weiteres Vierteljahr sollte er mit 156 Euro über den Monat kommen. In beiden Fällen hatte er eine Beschäftigungsmaßnahme des Jobcenters abgelehnt.

Die Thüringer Sozialrichter hielten die Sanktionen zwar nach dem Sozialgesetzbuch für rechtens. Sie erhoben aber schwere verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Praxis im Allgemeinen und riefen Karlsruhe an. Kürzungen des Existenzminimums verletzten die Grundrechte auf Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit, heißt es in der Richtervorlage. Auf dieses Minimum hätten selbst Inhaftierte Anspruch, die schwerste Verbrechen begangen haben.
Außerdem sei schon mit der Androhung von Sanktionen der Zwang verbunden, jedes Jobangebot vom Amt anzunehmen, unabhängig von Eignung, Bezahlung und Berufswunsch. Für Hartz-IV-Bezieher gilt im ersten halben Jahr einer neuen Tätigkeit nicht einmal der Mindestlohn. Darum, so die Richter aus Gotha, verstoße die Praxis auch gegen das Grundrecht auf freie Berufswahl.

Die erste Eingabe hatten die Verfassungsrichter 2016 wegen eines Formfehlers abgewiesen. Nach erneuter Verhandlung reichte die Kammer im vorvergangenen Sommer eine neue Richtervorlage ein. Die Verfassungsrichter setzten diese auf ihre Agenda für 2017. Doch bis heute ist nichts passiert. Einen Termin für die Entscheidung konnte Allmendinger noch immer nicht nennen. „Das ist noch offen“, sagte er.

Essensmarken nach Ermessen

So verfahren die Jobcenter weiterhin nach den rigiden Vorgaben des Zweiten Sozialgesetzbuches (SGB II): Wer einen Termin verpasst oder zu spät kommt, erhält zur Strafe drei Monate lang einen Abzug von zehn Prozent. Über 25-Jährigen kürzen die Behörden die Leistung für jede andere „Pflichtverletzung“ um 30 Prozent. Ein zweites Vergehen innerhalb eines Jahres führt zu einer Sanktion von 60 Prozent, beim dritten Mal ist eine dreimonatige Totalsanktion angesagt, bei der auch die Krankenversicherung auf dem Spiel steht.

15- bis 24-Jährige werden noch härter bestraft. Ein einziger Regelverstoß bewirkt, dass sie ein Vierteljahr lang gar keine Leistung mehr bekommen. Halten sie zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres eine Auflage nicht ein, wird ihnen im folgenden Strafakt für einen genauso langen Zeitraum sowohl das gesamte Budget für den Lebensunterhalt als auch der Mietzuschuss gestrichen.

Wer eine Sanktion von über 30 Prozent erhält, kann Lebensmittelgutscheine beantragen. Diese muss das Amt aber nicht bewilligen. Sachbearbeiter dürfen hier nach eigenem Ermessen entscheiden. Der Höchstbetrag dieser Sachleistungen beträgt im Fall einer Vollsanktion 205 Euro pro Monat. Miete, Strom oder Busfahrkarten können die Bestraften davon nicht bezahlen.

Tausende Minderjährige und Eltern auf Null gesetzt

Beim Strafen sind Jobcenter konsequent. Alleine im zuletzt statistisch erfassten Monat August 2017 waren laut Bundesagentur für Arbeit (BA) 135.643 Hartz-IV-Bezieher mit einer Leistungskürzung belegt – darunter fast 91.000 Männer und gut 43.500 Frauen. Ein knappes Viertel der Betroffenen waren unter 25 Jahre alt, etwa ebenso viele waren Migranten oder Flüchtlinge. Letztere müssen Hartz IV beantragen, sobald sie ein Asylrecht oder vorläufiges Bleiberecht erhalten haben.

Jobcenter machen dabei vor Minderjährigen nicht halt. Das geht aus Sonderstatistiken hervor, welche die BA der Autorin auf Anfrage übermittelt hat. Danach waren alleine im August dieses Jahres 2.441 Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren sanktioniert. 235 Minderjährigen hatten die Behörden sogar die gesamte Leistung einschließlich des Mietzuschusses gestrichen. In den Vormonaten waren jeweils ähnlich viele Jugendliche betroffen. Weitere 847 Vollsanktionierte waren 18 oder 19 Jahre alt. Die BA begründet ihr Vorgehen damit, dass junge Menschen ab 15 Jahren voll erwerbsfähig seien. Nur solange diese die Schule besuchen, sind sie von der Zwangsvermittlung durch das Amt befreit.

Insgesamt hatten Jobcenter in jedem Monat des ausgehenden Jahres zwischen 7.000 und 7.600 Menschen auf Null gesetzt. Etwa die Hälfte von ihnen war jünger als 25 Jahre. Ein Viertel derer, denen der Staat die kompletten Leistungen wegen eines unerwünschten Verhaltens gekappt hatte, stammte aus dem Ausland. Wie viele Betroffene obdachlos wurden, weil sie Miete, Nebenkosten und Strom nicht mehr zahlen konnten, vermochte die Arbeitsagentur nicht zu sagen. Dies werde nicht statistisch erfasst, teilte eine Sprecherin mit.

Auch auf Eltern und Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern im Haushalt nehmen die Behörden keinerlei Rücksicht. Sie werden nicht etwa milder sanktioniert als der Rest. Im Schnitt hatten Jobcenter pro Monat sogar 1.600 Müttern und Vätern die komplette Leistung gestrichen. Das heißt: Die Eltern waren auf Lebensmittelgutscheine angewiesen, die in bestimmten Supermärkten eingelöst werden können.

Die Bundesagentur für Arbeit beruft sich dabei auf das Gesetz. Familien mit kleinen Kindern im Haushalt sollen danach immer bei Kürzungen von über 30 Prozent Essensmarken erhalten. Stellung dazu nehmen wollte die Nürnberger Behörde nicht. Ende Juni hatte BA-Sprecher Paul Ebsen auf eine Anfrage zu den Folgen von Sanktionen wie Obdachlosigkeit und Hunger klar gestellt, warum: Die Bundesagentur sei an geltendes Recht gebunden, teilte er mit. Sie führe demnach als Exekutivorgan gesetzliche Regelungen aus. „Daher ist es nicht die Aufgabe der BA, Bewertungen oder Meinungsbilder bezüglich der rechtlichen Vorgaben abzugeben“, sagte Ebsen damals.

von

Günter Schwarz – 25.12.2017