„Anne Will“ zum Thema Holocaust und Antisemitismus
Anne Will und ihre Gäste diskutierten am gestrigen Sonntagabend, den 28. Januar 2018, um 21:45 Uhr bei der ARD über das Holocaust-Gedenken in Deutschland vom Samstag anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. Ein Gast in der Runde war die 93-jährige Holocaust-Überlebende Esther Bejarano.
Wie antisemitisch ist Deutschland? Eine befriedigende Antwort auf die Frage konnte die Talkrunde von „Anne Will“ nicht geben, aber es zeigte sich unstrittig, Antisemitismus ist eine kollektive Bewusstseinskrankheit.
Esther Bejarano ist Auschwitz-Überlebende. Sie wanderte 1945 nach Israel aus und zog 1960 wieder in die Bundesrepublik Deutschland zurück. Eine solche Vita verlangt einen besonderen Respekt.Sie kam In der ersten halben Stunde der Sendung kam sie allein zu Wort, was eine angemessene Wertschätzung für die 93-Jährige war.
Bejarano überlebte den Holocaust, weil sie in das Mädchen-Orchester des Konzentrationslagers aufgenommen wurde. Obwohl sie ihr Instrument, das Akkordeon, bis dahin gar nicht spielen konnte. Trotzdem schaffte sie es, in dem überlebenswichtigen Vorspiel, die richtigen Akkorde zu treffen. „Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami!“, war der Titel des deutschen Schlagers, den sie spielen sollte. Ihre Geschichte gibt Bejarano die nötige Autorität, den Antisemitismus im heutigen Deutschland in einer Schärfe zu kritisieren, die manchem Zuschauer übertrieben vorkommen mag.
„Wie kann es sein, dass wir heute wieder Nazis haben?“, wollte Anne Will wissen. Bejarano erinnerte sie daran, dass diese Nazis eben nie weg waren. Sie sieht keinen großen Unterschied zwischen der NS-Zeit und dem heutigen Deutschland: „Ich bin der Meinung, dass Deutschland immer antisemitisch war. Dass sich da nicht viel geändert hat.“ Man müsse „etwas gegen diese rechtslastigen Parteien tun, die wir leider hier heute wieder haben!“
Kulturstaatsministerin Monika Grütters, CDU, fand es ergreifend und ergriff auch Bejaranos Hand, wobei sie sagte: „Wir werden noch viel vermissen, wenn diese Generation mal nicht mehr ist.“ Dennoch wirkte Ministerin Grütters eher hilflos mit ihrem Hinweis auf staatliche Bemühungen, den Holocaust „als Zivilisationsbruch, den uns die Nazis beschert haben“, zu bezeichnen und dieses im Gedächtnis der Deutschen wachzuhalten.
Tatsächlich, so Grütters, liefen pädagogische Bemühungen auch deswegen zunehmend ins Leere, weil in den sozialen Netzwerken „wieder mehr erlaubt“ sei, „als wir das hier jahrzehntelang gelernt hatten.“ Ein kurzer Abstecher in Echtzeit – weg vom Fernseher, hin zu Twitter oder Facebook, wo unter anderem AfD-Kreisvereine die Überlebenden von Auschwitz als naiv bezeichnen und lieber über den Antisemitismus unter Flüchtlingen reden würden – unterstreicht diese These aufs Deprimierendste. Immerhin beschwerte sich diesmal keine Alice Weidel von der AfD, nicht eingeladen worden zu sein.
von
Günter Schwarz – 29.01.2018