Der Kult um Bewertungen
Das Restaurant, das Hotel, die Kleidung, das neuste Elektronikprodukt, das Krankenhaus, die Universität und, und, und… – ja, sogar der potenzielle Partner! – wir bewerten heutzutage alles mit Punkten, Sternchen und Likes. Gibt das dem Menschen, mag er Kunde, Patient oder oder nur ein wissbegieriger Mensch sein, Macht oder nimmt es ihm seine Freiheit?
An sich sind Bewertungen nichts Schlechtes. Sie helfen uns in einer komplexen Welt, Ordnung und Überblick zu schaffen, weil sie Besser-Schlechter- und Mehr-oder-Weniger-Vergleiche erlauben.
Doch heute grassiert ein wahrer Kult um solche Bewertungen. Wir wägen Argumente nicht mehr gegeneinander ab, wir tauschen sie nicht mehr untereinander aus. Wir orientieren uns nur noch an den Vorgaben der Bewertungssysteme und nicht mehr daran, was wir selbst für relevant halten.
Ursprünglich war die Idee der Bewertungen der aufklärerische Gedanke, der Konsumentinnen und Konsumenten helfen sollte, sich unabhängige Informationen zu beschaffen. Tatsächlich haben aber die Massenbewertungen im Internet zur Folge, dass sich die Macht verschiebt. Der Kunde gewinnt an Einfluss, und Unternehmen, Ärzte oder Lehrer usw. müssen sich nun um gute Bewertungen bemühen.
Man sollte aber auch nicht vergessen, dass die Daten nicht die Realität darstellen, sondern oft neue Illusionen schaffen, denn beispielsweise Ärztebewertungen bilden nicht das ärztliche Können ab, sondern allzu oft nur, wie freundlich oder sympathisch diese erscheinen.
Man liest von gekauften Bewertungen z. B. auf der Reiseplattform Tripadvisor oder gekauften Likes auf Facebook. Muss man heute allem misstrauen?
Bewertungen sind häufig durchaus sinnvoll, aber sie sollten uns aber nicht davon abhalten, uns selber eine Meinung zu bilden und zu urteilen. Die Anzahl manipulierter Bewertungen ist schwer abzuschätzen. Klar ist aber, dass besonders große Unternehmen vieles dafür tun, um in den Ranglisten gut platziert zu sein. Ein gesundes Misstrauen kann daher nicht schaden.
Die Gesellschaft der Ratings, Rankings, Scores, Likes und Sternchen wird unter einem „metrischen Wir“ zusammengefasst, womit eine Gesellschaft bezeichnet wird, in der alles quantifiziert wird. Man verlässt sich nur noch auf Zahlen, um sich zu orientieren, zu klassifizieren und zu bewerten. Während es früher hieß, „Kleider machen Leute“, kann man heute sagen: „Daten machen Leute“.
China geht in diesem Bewertungskult noch viel weiter, denn die dortige Regierung will bis 2020 ein „Social Credit System“ einführen. Dieses System führt alle Daten, die es über die Bürger gibt, zu einem Index zusammen. Dieser Index soll das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger aufzeigen. Ein hoher Punktestand wird belohnt, ein tiefer führt zu Nachteilen – etwa auf dem Wohnungsmarkt oder bei der Arbeitsplatzsuche.
Auch offline werden Daten zusammengetragen: Es wird registriert, was man kauft, wie man sich benimmt oder ob man sich an Gesetze und Regeln hält. Dadurch, dass die Bürgerinnen und Bürger ihre Punktestände ständig miteinander vergleichen, kommt es zu einer neuen Form der sozialen Kontrolle. In China hat man weniger Vorbehalte darüber, dass in großem Stil Daten für politische Zwecke genutzt werden. Die Regierung fördert diesen Prozess aktiv und macht sich die Daten zunutze.
In Europa und anderen westlichen Gesellschaften spielen sich die Bewertungen auf dem freien Markt ab. Auch hier werden beinahe alle Aspekte des Lebens „verdatet“. Es geht dabei aber um Gewinn und Wettbewerb – nicht um soziale Kontrolle wie in China. Die Digitalisierung und das Internet erlauben vielen Menschen den Zugang zu Information und ermöglichen ihnen, sich politisch in der Gesellschaft zu beteiligen. Gleichzeitig kann die Digitalisierung auch Ungleichheit zementieren, denn Bewertungen zum Beispiel bestimmen den eigenen Status wesentlich mit. Die Vorteile kumulieren sich und werden auf die Mitstreitenden ungleich verteilt.
Wenn Sie Bewertungsplattformen nehmen, so mögen die Unterschiede in der Bewertung einzelner Restaurants marginal sein, aber die ersten fünf im Rating ziehen 90 Prozent der Aufmerksamkeit auf sich.
Leistungen, die einstmals unsichtbar waren, können nun sichtbar werden, und es gibt immer emanzipatorische Elemente. Der Markt verändert sich schnell. Aber das System ist auch leicht manipulierbar. Besonders problematisch ist, dass wir eine ungeheure Marktmacht einiger weniger Unternehmen gegenüberstehen. Diese Unternehmen definieren die Algorithmen. Sie kontrollieren also, was wichtig wird. Hinzu kommt, dass diese Algorithmen oft geheim sind. Dadurch werden die, die uns klassifizieren, immer intransparenter, während wir immer gläserner werden.
von
Günter Schwarz – 11.02.2018