Mit der politisch, historisch und geographisch im seit 1536 protestantischen Königreich Dänemark spielenden Tragödie „Hamlet“ hat William Shakespeare schon 1603 – vor über 400 Jahren! – den ersten modernen Menschen auf die Bühne gestellt.

Einen gewissen Einfluss auf Shakespeares Tragödie des „Hamlets“ hatte sicher auch seine eigene Biographie. Als gläubiger Katholik lebte Shakespeare, der beruflich an die englische Hauptstadt mit damals etwa 250.000 Einwohnern, die wohl größte Stadt Europas, gebunden war, in der Diaspora und fern von seiner Familie in Stratford-upon-Avon.

Um den Repressalien der die Stadt beherrschenden Puritaner auszuweichen wohnte er meistens irgendwo zur Untermiete oder bei einem seiner adligen Gönner, ohne deren Protektion die Theater, die ohnehin der Puritaner wegen außerhalb der Stadt lagen, nicht existieren konnten. England war seit vier Jahrzehnten, seit der Thronbesteigung Elisabeths I. 1558, endgültig protestantisch.

Der gesamte Besitz der katholischen Kirche einschließlich der Klöster war enteignet und den katholischen Priestern das Ausüben ihres Amtes verboten worden. Als der Papst 1570 die Exkommunikation der Königin verfügte, begann für die englischen Katholiken die Zeit der Verfolgung und Blutopfer, der Flucht junger Engländer in Ausbildungsstätten auf dem Kontinent und ab 1580 der Aufbau einer geheimen Missionskirche in England.

„Brückenkopf” der katholischen Mission war die am Ufer der Themse gelegene ehemalige Klosteranlage Blackfriars, Sitz des französischen Botschafters. Sie ermöglichte die unbemerkte Ein- und Ausreise von katholischen Geistlichen und somit die Sicherung der Seelsorge und des Lesens von Messen. Anlaufstelle auf dem Kontinent war in der Regel das Englische Kolleg in St. Omer ca 45 km südöstlich von Calais in Frankreich. Kurz vor seinem Tod hat sich Shakespeare am Kauf eines Gebäudes auf dem Klostergelände beteiligt, um diesen Transitweg abzusichern.

Shakespeares Zweifel begleiten uns bis heute und werden die Menschheit sicher noch über einen langen Zeitraum weiter begleiten.

Wie die „Mona Lisa“ zum Beispiel auch: Manche Kunstwerke sind wirklich weltberühmt und sie umgibt eine Aura, die sich kaum einer zu entziehen vermag. Weil es darüber eine allgemeine Verständigung gibt, eine Kenntnis, auch wenn man dem Werk selbst nie begegnet ist und es nicht aus eigener Anschauung kennt. „Der Kuss“ von Gustav Klimt ist auch so ein Welt-Werk. Die Chinesische Mauer. der Taj Mahal. oder der „Hamlet“.

Auch wer das Stück noch nie gesehen hat, kennt zumindest die Standard-Zitate daraus. Sie sind immer wieder gern gehört und nahezu passend für jeden Anlass: „Etwas ist faul im Staate Dänemark.“ „Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt.“ „Der Rest ist Schweigen.“ „Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode.“ „Die Welt ist aus den Fugen.“ Oder eben: „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage …“

Wie stark kann ein Zitat noch wirken?

„To be or not to be“: Die existenzielle Betrachtung ist längst zur alltäglichen Floskel geworden. Wie viele Varianten gibt es, die paar Worte auszusprechen. Wie viele Witze hat man schon darüber gemacht, wie viele Kalauer wurden dazu erfunden?
Aber auch wie viel philosophische Gedankenauslotung, wie viel emotionale Tiefe wurden daran gewendet? Wie stark können solche Worte nach alledem, was sie hinter sich haben, nach dieser ganzen Rezeptionsgeschichte, überhaupt noch auf uns einwirken?

Mord, Rache, Liebe und anderen menschlichen Emotionen sind Teil der spannenden und abwechslungsreichen Handlung, die bei vielen Zuschauern und Lesern der Eindruck erweckt, dass hinter dem Dargestellten sich ein tieferer Sinn verbirgt. So will man sich mit einem naiven Verstehen der Handlung nicht zufriedengeben. Doch dieser Sinnsuche steht entgegen, daß zum einen das Drama einer Kultur angehört, die vor vierhundert Jahren bestand und längst vergangen ist, und zum anderen, dass nicht eindeutig ersichtlich ist, wonach zu suchen ist.

Um diese Probleme zu beheben, sind viele Interpretationsmethoden entwickelt worden, die im Zusammenwirken ein zufriedenstellendes Resultat erbracht haben. Als wichtige literatur- und kulturwissenschaftliche Methoden gelten: Hermeneutik, Sozial-, Geistes-, Kultur-, Mentalitätsgeschichte, Quellenforschung, Strukturalismus, Dekonstruktivismus, Intertextualität, Kultursemiologie, New Historicism, Diskursanalyse und Feministische Wissenschaften.


1926 spielte Fritz Kortner in Berlin Hamlet mit blonder Perücke. Der Kritiker Alfred Polgar sprach von einem „Idiotendeckel“.
Eines der meistgespielten Dramen

„Es ist aber über Shakespeare schon so viel gesagt“, stellte bereits vor geraumer Zeit, nämlich im Jahr 1813, Johann Wolfgang von Goethe fest, „dass es scheinen möchte, als wäre nichts mehr zu sagen übrig“, und er fügte an, „und doch ist dies die Eigenschaft des Geistes, dass er den Geist ewig anregt.“

Es gibt von Shakespeares „Hamlet“ an die 50 Filmversionen. Das Stück gehört bis heute zu den meistgespielten Dramen auf den Theaterbühnen und zu den Glanzrollen für jede Schauspielerkarriere.

Unlängst etwa für Lars Eidinger in Berlin, der es – versifft, in Unterhosen, die Krone verkehrt herum auf dem wirren Haar – damit sogar aufs „Spiegel“-Cover gebracht hat. Und jedes Mal sieht das Stück anders aus und hört sich anders an.


Kein zaudernder Grübler: Lars Eidingers von Spielgier getriebene Hochenergie-Version von Hamlet, 2008 in Berlin.
Die „Mona Lisa“ der Literatur?

Man kann diese geschmeidige Weltbekanntheit auch problematisch finden. Eher abschätzig bezeichnete der Dichter T. S. Eliot 1919 „Hamlet“ als „.Mona Lisa‘ der Literatur“: beides völlig „overrated“. So oft gesehen, dass man es gar nicht mehr sieht.

In der Tat hat sich über all die Jahre ein Hamlet-Klischee herausgebildet. Hamlet hat jenseits der Bühnenaufführungen ein Zweitleben entfaltet und ist zur Hohlform im allgemeinen symbolischen Repertoire geworden, die den Blick auf die Eigenheiten der Figur verstellen kann. Aber genauso rätselhaft wie bei «Mona Lisa» ist auch Hamlets hintergründiges Lächeln, und wie bei der lombardischen Dame ist es stets aufs Neue faszinierend.

Ein verschobenes Bild

In edler Samtweste zeigt das Klischee den Dänenprinzen, mit grüblerischem Blick und einem Totenschädel in der Hand. Zum Beispiel auf dem pompösen Denkmal in Shakespeares Geburtsort Stratford-upon-Avon, der zu seinem „Barden“ eine ähnlich einträgliche Nutzliebe pflegt wie Salzburg zu Mozart und Verona zu „Romeo und Julia“.


Die typische Hamlet-Pose: Denkmal im englischen Stratford-upon-Avon, Shakespeares Geburtsort.
Bleich schaut dieser Hamlet auf den bleichen Schädel in seiner Hand und murmelt: „Sein oder Nichtsein …“. Zwar würde er bei diesem Monolog gar keinen Totenschädel in der Hand halten. Es sind zwei völlig verschiedene Szenen aus dem Stück, die sich bei dieser Vorstellung ineinanderschieben.

Aber das ändert nichts: Im kollektiven Bewusstsein überlagern sich die Bilder zu dem einen stereotypischen „von des Gedankens Blässe angekränkelten“ Hamlet.

Hamlet als Projektionsfigur

Dabei war der berühmteste Hamlet auf deutschsprachigen Bühnen alles andere als melancholisch. Der Burgschauspieler Josef Kainz spielte Hamlet während zwei Jahrzehnten, von 1891 bis zu seinem Tod 1910. Er spielte ihn offenbar eher sportiv und sehr heldenhaft. Es war seine Paraderolle, er entfachte damit einen regelrechten Kult.


„Hamlet“ war seine Paraderolle: Der österreichische Schauspieler Josef Kainz spielte ihn während zwei Jahrzehnten.
Kainz wurde von seinen Zeitgenossen als die Verkörperung einer kollektiven Sehnsucht verstanden, der Sehnsucht, „die aus den Fugen geratene Welt möge durch einen Heroen von nahezu übermenschlichen Ausmassen wieder ins Lot gebracht werden“, wie der Theaterwissenschaftler Peter W. Marx feststellt.

In seinem soeben erschienenen Band «Hamlets Reise nach Deutschland – Eine Kulturgeschichte» beschreibt Marx faszinierend und einlässlich, wie Hamlet besonders für die kollektiven Sehnsüchte der Deutschen zur wechselnden Projektionsfigur werden konnte.

Hamlet ist nicht eindeutig

Dass Hamlet aber zu so was wie Barbarossa wird, der im Kyffhäusergebirge schläft und auf den die Deutschen als Retter des Reichs warten, erstaunt dann doch ein wenig. So weit hat sich diese Vorstellung von Hamlet als Ikone des Innerlichkeitspathos und melancholischer Weltabgewandtheit entfernt.

Mit Shakespeare stützen lassen sich beide Deutungen. Und noch viele mehr. Genau darin liegt die Zumutung von Shakespeares Drama. In den Widersprüchen der Figur, die eigentlich „unfertig“ ist, wie schon T. S. Eliot festgestellt hat. Nicht rund, nicht eindeutig. Aber gerade das macht sie eben auch so verblüffend modern – für alle Epochen wieder, und für jede Generation anders.

Großes Themenspektrum

Nicht nur die Figur Hamlet ist vielschichtig, auch das Drama als Ganzes mit seinem thematischen Überfluss. Hamlets Vater ist gestorben. Sehr plötzlich und unvermutet. Hamlets Mutter heiratet daraufhin den Bruder des Vaters. Auch dieses geschieht auffallend schnell.

Der Sohn will von der neuen Patchwork-Familie aber nichts wissen. Im Gegenteil: Er sieht seinen Vater vor sich, der ihm die Augen öffnet. Der eigene Bruder habe ihn ermordet. Was nun?

„Ein gebildeter Prinz, von einem spukenden Vater, einer geilen Mutter und einem mörderischen Onkel aus der Bahn geworfen, verspielt Liebe, Freundschaft, Reich und Leben.“ So fasst es der Autor und Literaturkritiker Rolf Vollmann 1988 in seinem kapitalen (aber leider vergriffenen) Lexikon „Shakespeares Arche“ kurz und bündig zusammen, und empfiehlt so pragmatisch wie augenzwinkernd: „Hamlet hätte Ophelia vögeln, und dann in ein Kloster sollen gehn.“

Der zweifelnde Hamlet

Das tut er aber nicht. Zu unserem Glück. Hamlet weiss überhaupt nicht, was er tun soll. Er prokrastiniert. Er überlegt hin und her. Er will den Vater rächen, aber als er die Gelegenheit dazu hat, bringt er’s doch nicht über sich.

Statt aktiv zu werden, macht er sich Notizen („Wohl nicht falsch, wenn ich mir’s aufschreib, dass einer lächeln kann und lächeln, lächeln, und ein Schuft doch sein …“). Er problematisiert sich selbst. Er fühlt sich aufgerufen, die aus dem Lot geratene Welt zu retten, und bringt nichts auf die Reihe – könnte man schliessen.

Aber natürlich trifft das die Sache nicht ganz: Er wirft ein immenses, vertracktes Fragenspektrum auf, an dem sich seit dem 17. Jahrhundert bis heute jede Generation immer neu abarbeitet und damit kein Ende findet.

Ein Theater im Theater

Es geht um Recht und Gerechtigkeit, die politische und soziale Ordnung, die auf dem Spiel steht, ebenso wie die symbolische Ordnung im «Namen des Vaters». Es geht um eine zweifelhafte und offenbar inzestuöse Mutter, überhaupt um Sexualität, die Unmöglichkeit zu lieben, auf der Strecke bleibt Ophelia.

Es geht – Hamlet ist noch keine dreissig – um die Revolution: um subversives Handeln in einem autoritären System. Es geht um den Kriminalfall, den Hamlet aufdecken muss, und den Onkel-Rivalen, den er mit einem hollywoodreifen Showdown auffliegen lassen will.

Dabei greift er dann ja zu einem ganz besonders bemerkenswerten Mittel: nämlich einem Theater im Theater. Er engagiert Schauspieler, die der verrotteten Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Mithin geht es letztlich um die Schauspielkunst selbst, die Möglichkeiten der Kunst in der Gesellschaft… „Das Schauspiel sei die Schlinge, in die den König sein Gewissen bringe!“

In Hamlet findet jeder sein Thema

In Hamlet verspiegeln sich soziale und individuelle Grundproblematiken derart, dass jeder daraus ziehen kann, was ihn gerade umtreibt. Für Goethe konnte Hamlet so was wie einen dänischen Werther abgeben; für Heiner Müller 1990 ein Bild des Intellektuellen in der DDR.


Eugène Delacroixs (1798–1863) wildromantischer Blick auf die Figur: Hamlet und Horatio auf dem Friedhof.
Der Maler Eugène Delacroix zeichnete ihn als wildromantischen Seelenzerwühler; der erwähnte Josef Kainz machte ihn in der wilhelminischen Zeit zum politischen «Schläfer».

Peter Zadek inszenierte ihn 1977 als Maskenspieler in einem postmodernen Welttheater. Vollends in ein Spiegelkabinett setzte ihn Jan Bosse 2007 in Zürich, an einen langen Banketttisch, an dem auch das Publikum sass.


Am Tisch: Hamlet-Inszenierung von Jan Bosse 2007 im Schiffbau in Zürich.
Hamlet ist am Puls der Zeit

Peter Brook holte ihn 1998 mit einem „Ensemble of Color“ aus dem westlichen Hallraum heraus und ließ ihn darüber grübeln, wie man eine „Hamlet“-Szene, wie man überhaupt Theater spielen kann.

Immer mal tritt er auch als Frau auf. Oder er lässt die Gender-Rahmungen gleich ganz hinter sich wie der Performer Julian Meding in Boris Nikitins „Hamlet“-Reflektion 2016, einem Vexierspiel der Identitäten und Repräsentationen.


Immer wieder tritt Hamlet als Frau auf: Die französische Schauspielerin Sarah Bernhardt spielte ihn 1899 in Paris und London.
Ob als gesellschaftlicher oder politischer Hoffnungsträger oder im Gegenteil als Verlierer, als skeptischer Intellektueller, als Spieler, als Inbegriff des Künstlers: Hamlet ist am Puls der Zeit. «‹Hamlet› wirft immer sofort die Frage auf, inwiefern eine Interpretation typisch für eine Generation oder ein Gemeinwesen ist», sagt Peter W. Marx.

Der erste Mensch der Neuzeit

Die Renaissance gilt als Geburtsstunde des Konzepts der Individualität. Am Anfang unserer Moderne, in einer unsicheren Epoche, einer Zeit der Umbrüche, stellt sich mit Hamlet eine Figur auf die Bühne, die sich selbst in Zweifel zieht. Hamlet setzt sich Fragen nach dem Ich und nach der Identität aus, die uns seither nicht losgelassen haben.

„Hamlet steht als Archetypus am Beginn der Geschichte unseres ,Ich’“, schreibt der Shakespeare-Übersetzer Frank Günther in seinem so kenntnisreichen wie originellen Annäherungs-Buch „Unser Shakespeare“. Mit Hamlet betritt für ihn der erste Mensch der Neuzeit die Bühne. Die Theaterfigur tritt aus dem vorgegebenen Rollentypus heraus und fragt: Wer bin ich?


Ein Hamlet jenseits der Gender-Rahmung: der Performer Julian Meding in Boris Nikitins Inszenierung von 2016.
Hamlet entdeckt den inneren Konflikt für die Bühne. Sein inneres Erleben wird zum zentralen Handlungsgeschehen. Wie die Seefahrer seiner Zeit, vergleicht Günther, bricht auch Hamlet auf in eine Terra incognita: „in die noch unerforschten Landschaften der Seele“.

Hamlet: eine globale Denkfigur?

Hamlet ist der erste moderne Intellektuelle auf der Bühne. Seine ontologischen Zweifel begleiten uns bis heute und werden uns weiterhin begleiten.

Vielleicht ist er ja tatsächlich eine Welt-Figur: nicht nur ein weisser Mann aus dem kulturellen Westen, sondern eine globale Denkfigur. Das Zeug dazu hätte er – weil er so aufregend vielseitig ist. Weil die Krisen, in denen er sich findet, so universal sind. Das macht ihn brisant.

Mit Hamlet kommen wir nicht so schnell zu einem Ende. Hamlet denkt nach. Er erwägt, zweifelt, kalauert, spiegelt, verdreht – und bringt uns so dazu, unsere eigenen Fragen an ihn zu stellen. Die er dann mit seinem Mona-Lisa-Lächeln quittiert.

von

Günter Schwarz – 10.09.2018