Schleswig-Holstein und die Reichspogromnacht am 09. November 1938
Die Existenz einer jüdischen Gemeinde im Mittelalter und in der frühen Neuzeit kann im Land nicht belegt aber auch nicht ausgeschlossen werden. Die Geschichte der Juden in Schleswig-Holstein begann nachweisbar gegen Ende des 17.Jahrhunderts, als sich wenige „Hofjuden“ in Kiel – gegen den Willen des Magistrats – niederließen. Sie standen unter dem Schutz vom regierenden dänischen König, Kong Christian VII., der „seine“ Juden zur Geldbeschaffung einsetzte. Zudem suchten handelstreibende Juden die Fördestadt als Umschlagplatz für ihre Waren auf.
Erst im Laufe des 19.Jahrhunderts zogen vermehrt Juden nach Kiel, sodass erst seit Mitte dieses Jahrhunderts von einer Gemeinde gesprochen werden kann. Anfang der 1780er Jahre wurde in der Kehdenstraße im ehemaligen Kaffeehaus der Universität das erste jüdische Bethaus in Kiel eingerichtet. Knapp 100 Jahre später bezog die Gemeinde einen dreistöckigen Synagogenbau in der Haßstraße, nachdem in den Jahren unmittelbar zuvor ein Betraum in der Schumacherstraße genutzt worden war. Die Synagoge in der Haßstraße – eingeweiht Ende Dez. 1869 – war ein Backsteingebäude mit einem Betsaal für 85 Männer und einer Frauenempore. Sie war in einfacher, schmuckloser, aber würdiger Weise eingerichtet, dem Eingange gegenüber befand sich die heilige Lade, in welcher die Gesetzbücher aufbewahrt wurden, und in der Mitte der Gang, an dem sich zu beiden Seiten die Plätze für die Mitglieder der Gemeinde befanden.
Doch auf Grund der stark anwachsenden Zahl der Gemeindemitglieder wurde die Räumlichkeit bald zu klein, so dass man Ende 1909 die große Synagoge beim Schrevenpark an der Ecke Goethestraße/Humboldtstraße einweihte; sie war ein imposanter „Tempel“-Bau – entworfen vom Kieler Architekten Johann Theede – und bot mehr als 600 Gläubigen Platz. Hier befand sich auch die israelitische Religionsschule.
Am 09. November 1938 war das Zusammenleben mit den Deutshen jüdischen Glaubens denn nach den Rassegesetzen vom 15. September 1935 „zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ dann endgültig vorbei, denn der Mob der Nationalsozialisten zündete Synagogen an, zerstörte Geschäfte und schlug wahllos auf Juden ein und nahm auch zahlreiche unter ihnen gefangen.
Auch durch Schleswig-Holstein rollte eine Welle der Gewalt gegen die jüdischen Mitbürger durchs Land. Die „Stoßtrupps“ kamen mit Brechstangen, Äxten, Beilen und Spaten. In der Nacht vom 09. auf den 10. November 1938 fielen Mitglieder vor allem der SA, aber auch von SS, Polizei und Gestapo in ganz Schleswig-Holstein über jüdische Gotteshäuser, Wohnungen und Geschäfte her.
Sie verwüsteten Wohnungen, zertrümmerten Fensterscheiben und steckten Synagogen in Brand. Allein in Kiel wurden nach Recherchen des Instituts für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte (IZRG) in der Reichspogromnacht 58 jüdische Männer verhaftet, in Lübeck waren es bis zu 70 Festnahmen. Die meisten kamen ins Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin.
Die archaisch wirkende Barbarei machte vor dem Norden keineswegs halt. Dabei war jüdisches Leben im agrarisch geprägten Schleswig-Holstein vergleichsweise unbedeutend. Gerade einmal rund 2.000 Juden lebten zu Beginn der NS-Zeit auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes. Die Judenfeindlichkeit war nach Ansicht des IZRG-Historikers Uwe Danker trotzdem ausgeprägt. „Es ist bekannt, dass Ressentiments besonders gut dort zu pflegen sind, wo es kaum Minderheiten gibt.“
„Was wie ein spontaner Ausbruch der Empörung gegen die jüdische Bevölkerung wirken sollte, war eine inszenierte Gewaltorgie“, sagt der Forscher. Als Anlass diente den NS-Diktatoren ein Attentat auf einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris am 07. November. Nach einer Hetzrede von Propagandaminister Joseph Goebbels erreichte die Gewalt den Norden zwei Tage später.
Schleswig-Holsteins höchster SA-Führer und Polizeipräsident von Kiel, Joachim Meyer-Quade, instruierte seine Helfer per Telefon von München aus, wo die Nazi-Elite das jährliche Gedenken an den „Hitlerputsch“ vom 09. November 1923 feierte: „Ein Jude hat geschossen“, heißt es im Gesprächsprotokoll der SA-Gruppe Nordmark. „Ein deutscher Diplomat ist tot. In Friedrichstadt, Kiel, Lübeck und anderswo stehen völlig überflüssige Versammlungshäuser. Auch Läden haben diese Leute noch. Beide sind überflüssig.“ Und er gab die Anweisung, dass die Aktion in Zivil durchgeführt werden muss. „Die SA sollte die Pogrome entfachen, aber nicht als Organisator in Erscheinung treten“, erklärt Danker.
Und so zogen sie los. In Lübeck zerstörten die vermeintlichen „Zivilisten“ fast alle jüdischen Geschäfte in der Innenstadt. Lediglich der Schutz der benachbarten Häuser hielt die Randalierer davon ab, das jüdische Gotteshaus in Brand zu setzen. In Elmshorn brannte die Synagoge und auch in Kiel ging die Synagoge (im Beitragsbild) beim Schrevenpark Ecke Goethestraße/Humboldtstraße in Flammen auf. „Das Feuer war so stark, dass die Fensterscheiben geplatzt sind“, schrieb eine Woche nach den Krawallen ein Augenzeuge in einem Brief. Gewaltausbrüche gegen jüdische Mitbürger, Geschäfte und Einrichtungen gab es auch in Friedrichstadt, Rendsburg, Schleswig, Flensburg, Kappeln, Brunsbüttelkoog, Bad Segeberg, Satrup sowie auf Sylt und Föhr.
„Die Bevölkerung schaute zumeist tatenlos zu oder weg“, sagt Historiker Danker. Es habe in Lübeck und Kiel zwar einen völlig enthemmten Mob gegeben, in der Regel hätten die Menschen – anders als von den Nazis beabsichtigt – das Geschehen eher mit Abscheu verfolgt. C“Es war paradox – die Bevölkerung hat zuvor die Nürnberger Rassegesetze geduldet. Das erschien ihr legitim. Die wilde Gewaltorgie aber nicht.“ Daraus zogen die Nazis nach Ansicht von Danker ihre Lehren. „Die späteren Deportationen, die Endlösung – das ging später seinen scheinbar legalen, geordneten Gang.“
Offene Empörung wagten aber auch in der Pogromnacht nur wenige. Ein Anwohner in Elmshorn, der wegen der brennenden Synagoge die Feuerwehr alarmieren wollte, musste sich Drohungen anhören: „Hol din Schnut, suns kriegst wat mit dem Gummiknüppel.“ Der Vorsteher der Jüdischen Gemeinde in Kiel, Gustav Lask, der von SS-Leuten durch Schüsse schwer verletzt wurde, berichtete später von der Verhaftung eines Bekannten, der sich positiv über ihn geäußert hatte.

Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Ladelund rund 20 km nordöstlich von Niebüll.
verschiedene Quellen überarbeitet und veröffentlicht von
Günter Schwarz – 09.11.2018