Heute vor 800 Jahren wütete die Erste Marcellusflut an der Nordseeküste
Die erste Marcellusflut, die auch als „Grote Mandränke“ (großes Ertrinken) in die Geschichtsbücher Eingang gefunden hat, ereignete sich heute vor exakt 800 Jahren am 16. Januar 1219. an der friesischen Nordseeküste. Bereits seit Tagen wehte eine leichte Brise aus Südwest, bis sich am 16. Januar, dem Tag des heiligen Marcellus, aus dem leichten Wind um die Mittagszeit ein schwerer Hagelsturm mit einer scheren Sturmflut entwickelte, die unterschiedlichen Schätzungen nach 36.00 bis 60.000 Menschen das Leben kostete.
Es war der Auftakt für eine der verheerendsten Sturmfluten in der Geschichte der Nordseeküste – und die erste, von der ein überlieferter Augenzeugenbericht existiert: „Mit diesen Wurfgeschossen (gemeint damit waren Hagelkörner) gewappnet, riss der blutdürstige Südwestwind die elenden Sterblichen auf dem Meer wie an Land grausam ins Verderben“, schildert der Geistliche Emo von Wittewierum, der spätere Abt des Prämonstratenserklosters von Wittewierum bei Groningen, den Beginn der Ersten Marcellusflut in seiner Chronik über Frieslan, die er im „Chronicon abbatum in Werum“ festhielt.
Doch der Hagel war nur der Vorbote einer größeren Katastrophe, denn am Abend drehte der Sturm auf Nordwest, und zugleich erzeugte der Vollmond eine Springflut, was eine schwere Sturmflut zur Folge hatte. Dort, wo überhaupt Deiche vorhanden waren, hatten diese der Naturgewalt nichts entgegenzusetzen und brachen. „Das Meer ergoss sich wie kochendes Wasser und überschwemmte das friesische Küstenland, das wie von einem plötzlichen Tod überfallen wurde. Es riss die Wohnstätten der Armen hinweg und auch die Häuser der Reichen hiekten ihm nicht Stand,“ schilderte Emo die Ereignisse. Die Wassermassen wüteten, „bis die Stützbalken der Häuser durch Unterspülen und Brechen herausgerissen waren“..
Die Menschen waren den Fluten hilflos ausgeliefert, und sie flüchteten sich soweit sie konnten auf die Dächer ihrer Häuser und mussten ansehen, wie andere bei dem Versuch, ihr Vieh oder ihr Hab und Gut zu retten, ertranken. Andere klammerten sich an Balken oder Strohballen und wurden „von den Fluten hin- und hergeworfen als wären sie Meeresgetier“.
Allein an der Westküste des heutigen Schleswig-Holsteins kostete die Marcellusflut Schätzungen zufolge 10.000 Menschen das Leben. Besonders schwer betraf es Westfriesland in den heutigen Niederlanden betroffen, hier schätzt man die Opfer der Fluten auf etwa 40.000 Menschen. Allerdings sind die Zahlen der vderschiedenen Chronisten recht unterschiedlich und damit relativ unzuverlässig.
Historiker gehen davon aus, dass Emo, der Chronist und spätere Abt des Klosters Wittewierum, die Sturmflut in der Nähe von Groningen selbst erlebt hat. Darauf lässt seine lebendige, detailreiche Schilderung schließen. Wie vermutlich die meisten seiner Zeitgenossen deutet Emo die Katastrophe in seiner Chronik vorrangig als Strafe Gottes. Diese Interpretation von Naturkatastrophen ist aufgrund des großen Einflusses der Kirche und damit des tiefreligiösen Glaubens im Mittelalter üblich.
Einige Chroniken aus dem 16. Jahrhundert haben diese Sturmflut, die damals fehlerhaft auf den 17. November 1218 datiert wurde, für die Entstehung des Jadebusens verantwortlich gemacht. Demzufolge soll das Wasser bei der ehemaligen Dorfwurt von Alt-Gödens eingebrochen sein, nachdem es den sagenhaften, mit kupfernen Toren versehenen Schieker Siel zerstört hatte. Die Kirchspiele, die damals versunken sein sollen wie Oldessen, Dauerns, Hummens, Fadel, Dangast, Arngast und Alt-Gödens oder Lee existierten jedoch noch in den 1420er Jahren.
Lediglich das Dorf Hiddels war schon verschwunden. Demzufolge sollte man die Ausdehnung der Nordsee und die Schaffung des Jadebusens erst im Laufe des 15. Jahrhunderts ansetzen, also wesentlich später, als die Sturmflutsage der Ersten Marcellusflut vermuten lässt.
Auf den Tag genau 143 Jahre später hatte die Zweite Marcellusflut noch verheerendere Auswirkungen. Die Menschen verstanden auch sie als Sintflut, die sie aufgrund ihres sündigen Verhaltens traf. Diese zweite Flut ging auch als Grote Mandränke in die Geschichte ein. Sie forderte laut ungesicherten Quellen rund 100.000 Todesopfer, wobei ganze Inseln und Städte, darunter die legendäre Stadt Rungholt für immer in den Fluten versanken .
von
Günter Schwarz – 16.01.2019