Was unter Historikern nicht überrascht, ist, dass jeder vierte Deutsche laut einer Umfrage antisemitische Gedanken hegt.

Der rechte Terrorangriff auf die Synagoge von Halle wühlt Deutschland auf. Der Attentäter schaffte es zwar nicht, in die örtliche Synagoge einzudringen und dort ein Blutbad anzurichten. Doch der Anschlag mit 2 Toten und 2 schwer Verletzten ist der bisherige Höhepunkt einer traurigen Entwicklung – antisemitische Übergriffe im Land häufen sich.

Über 70 Jahre nach dem Holocaust fragen sich viele: Schleicht sich braunes Gedankengut wieder in die Mitte der Gesellschaft ein? Eine repräsentative Umfrage des Jüdischen Weltkongresses legt dies nahe. Demnach hat jeder vierte Deutsche antisemitische Gedanken.

Die Umfrage wurde vor zweieinhalb Monaten, also vor dem Anschlag in Halle, durchgeführt. Die „Süddeutsche Zeitung“ veröffentlichte die Ergebnisse letzte Woche.

Es sei Zeit, „dass die gesamte deutsche Gesellschaft Position bezieht“, fordert der Präsident des Jüdischen Weltkongresses in der „Süddeutschen Zeitung“.

Auch einen Historiker alarmiert das Ergebnis der Umfrage. „Wer sich mit dem Phänomen beschäftigt, ist von den Zahlen nicht überrascht“, sagt Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

In der Umfrage wurde auch die gesellschaftliche „Elite“ befragt. Die Studienautoren meinen damit Menschen mit Universitätsabschluss und mehr als 100.000 Euro Jahreseinkommen.

Demnach hängt über ein Viertel von ihnen dem klassischen Repertoire des Antisemitismus an. Sie glauben etwa, Juden hätten zu viel Macht auf den internationalen Finanzmärkten und über die Weltpolitik.

Während AfD-Politiker eine Abkehr von der „deutschen Schuldkultur“ fordern, finden 41 Prozent der befragten Deutschen, dass Juden zu viel über den Holocaust reden.

Es sei ein Irrglaube, dass Wohlstand oder Bildung vor Vorurteilen schützen würden, sagt Brenner: „Das war auch in der Vergangenheit nicht so.“ Schon in den 1930er-Jahren seien Studenten und Gutverdienende Hitlers NSDAP besonders zugeneigt gewesen.

Der Antisemitismus grassiere weiterhin im gehobenen Mittelstand, mahnt der Historiker mit jüdischen Wurzeln. „Er war aber auch nie weg. In Umfragen der 1980er- und 1990er-Jahre sah es nicht viel besser aus.“

In der aktuellen Umfrage räumen 65 Prozent der Befragten ein, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Erfolg rechter Parteien und dem wachsenden Antisemitismus in Deutschland gibt.

Exponenten der AfD wie Björn Höcke leugnen zwar den Holocaust nicht, fordern aber ein Ende der „deutschen Schuldkultur“ und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. „Was kommt denn dabei raus? Sind die Nazis dann die Guten?“ fragt Brenner rhetorisch.

Für ihn zeigen solch kalkulierte Entgleisungen, dass antisemitische Ideen nicht ausgestorben sind: „Auch wenn sich heute kaum jemand selbst als Antisemit bezeichnen würde.“

Höckes völkisches Gedankengut schreckte die Wähler im Bundesland Thüringen nicht ab. Der AfD-Spitzenkandidat holte mit seiner Partei am Sonntag über 23 Prozent der Stimmen.

In den vergangenen Jahrzehnten hat Deutschland die Menschheitsverbrechen der Nazis aufgearbeitet. Verschwunden sei der Antisemitismus damit aber nicht aus der Gesellschaft, mahnt Brenner. Auch, weil es sich um ein komplexes Phänomen handle.

Antisemitismus komme nicht mehr nur von rechts, sondern auch von einer Israel-kritischen Linken und aus islamistischen Kreisen. „Ein Anschlag gegen eine jüdische Einrichtung kann heute aus verschiedensten Richtungen kommen“, sagt Brenner. Dieses sei Jahrzehnte nach dem Holocaust eine traurige Erkenntnis.

Angesichts der zunehmenden Abwanderung von Juden – nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Frankreich und anderen europäischen Ländern – zieht Brenner ein düsteres Fazit: „Vielleicht wird man einmal sagen: Was Hitler nicht geschafft hat, ist ein Jahrhundert später erfolgt.“ Nämlich ein Europa ohne Juden.

von

Günter Schwarz – 28.10.2019