„Plebiszit Schleswig“ – ein zu Unrecht vergessener Staat
Die deutsch-dänische Grenze feiert Geburtstag und Dänemark feiert seine Genforening (Wiedervereinigung): 1920 wählte das Volk an zwei Tagen – am 10. Februar wurde in der Zone 1 in Nord- und am 14. März in der Zone 2 in Mittelschleswig – über die Zugehörigkeit Slesvigs/Schleswigs abgestimmt und die aus der Abstimmung hervorgegangene Grenze ist noch heute als gültige Grenze zwischen Dänemark und Deutschland festgelegt. In Dänemark entstand in der Folge die deutsche und in Schleswig-Holstein die dänische Minderheit.
Zum 100-jährigen Bestehen der Grenze werden die damaligen Ereignisse wieder wach und die Hintergründe des dritten Staates zwischen Hamburg und Skagen im vergangenen Jahrhundert geraten wieder in das Interesse der Historiker. Der Staat, das sogenannte „Plebiszit Schleswig“, existierte exakt 144 Tage lang.
Der Flensburger Historiker, Professor Uwe Danker, machte den Journalisten aus Dänemark und Deutschland deutlich und rückte den Staat „Plebiszit Schleswig“ bewusst in den Fokus einer Sondervorlesung für deutsche und dänische Journalisten: die Leistungen der internationalen Kommission im halben Jahr des Staates „Plebiszit Schleswig“ waren beachtlich. Der Historiker setzt sich auch mi einer Neubewertung der Friedensverträge von Versailles auseinander.
Nicht nur das Beispiel deutsch-dänische Grenzabstimmung zeige, dass bei Paris auch wesentliche Impulse für ein neues Völkerrecht gesetzt und Experimente möglich wurden. Eines davon war der Staat „Plebiszit Schleswig“. Im Übrigen vielleicht der einzige Staat bisher, der seinen Auftrag im Namen führte: Es war ein Staat mit dem Zweck, eine Volksabstimmung zu ermöglichen.
Dass es vor 100 Jahren zwei Wahlgänge gab, ist manchen bekannt, unter historisch Interessierten vielleicht sogar Allgemeinwissen. Dass für diese Volksabstimmung – das Plebiszit – ein Staat gegründet wurde, erstaunt dann doch viele. Also lauschten die 20 Journalisten gebannt im Haus Oslo der Europauniversität in Flensburg dem Chef des Institutes für regionale Zeitgeschichte.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde im französischen Versailles die Welt neu geordnet. Angestoßen durch den 14-Punkte-Plan des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson wurde bei Paris auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker postuliert. Im Artikel 109 wird lapidar festgestellt: „Die Grenze zwischen Deutschland und Dänemark wird in Übereinstimmung mit dem Wunsche der Bevölkerung festgelegt.“ Ein „Hammersatz!“ – findet der Historiker. Die These von Uwe Danker lautet, dass im bei unseren politisch Rechten oft als „Schanddiktat“ bewerteten Versailler Vertrag viel Neues und viel Experimentelles stecke. In den Artikeln 109 bis 113 wurde der Rahmen für die Wahlen und das Formale festgelegt. Neu war dabei auch, das Gebiet Schleswig für die Zeit der Wahlen zu einem eigenständigen Staat zu machen, damit – im konkreten Fall – der Wille der Menschen nicht unter den Druck der preußischen Verwaltung kommen konnte.
Schon am 19. August 1919 nahm die Kommission ihre Arbeit in København auf. Ihr gehörten zwei Vertreter der Alliierten – ein Engländer und ein Franzose – sowie Vertreter zweier neutraler Staaten (ein Norweger und ein Schwede) und je ein Berater der dänischen und der deutschen Seite an. Der Brite Charles Marling wurde Präsident der „Commission Internationale de Surveillance“ – kurz CIS. Gebeugt über Karten legte die CIS noch in København die Grundlagen für ihre Arbeit im Grenzland fest. Am 25. Januar 1920 bezog die Kommission ihr Hauptquartier im „Flensburger Hof“.
Die Kommission war Regierung, Gesetzgeber und oberste Gerichtsinstanz. Macht gaben ihr britische Marine-Infanteristen und französische Gebirgsjäger, die ebenfalls am 25. Januar mit dem britischen Zerstörer „B 94“ und dem kleinen französischen Kreuzer „La Marseillaise“ eingetroffen waren. Dazu gab es eine eigene Polizei. Diese Truppe, mit einer Binde mit den Lettern „CIS“ gekennzeichnet, rekrutierte sich aus deutschen Wachtmeistern und dänischen Hilfspolizisten. Die Hauptaufgabe der Kommission war die Organisation der Wahlen in den beiden Abstimmungsgebieten. Deshalb bestimmte sie Wahlkommissionen auf Lokal- und Kreisebene.
Auch wenn es während der Wahlkampfzeit nur wenige blutige Nasen gab, wurde hart um jede Stimme gerungen. Das war überall so, am heftigsten in Flensburg. Die Dänen und die Deutschen – beide wollten die zentrale, große Stadt in Schleswig gewinnen. Danebrogs und Reichsflaggen hingen überall an den Häusern. Sie gaben schon einen Vorgeschmack, welcher Stadtteil wohl für Dänemark und welcher für Deutschland stimmen würde. Ganze Häuser wurden mit Plakaten geradzu tapeziert. Die Kommission griff ein und durch. Damit es nicht zu Unruhen kam, wurde verboten, Plakate zu entfernen.
159 Verordnungen erließ die Kommission für ihre 144-tägige Regierungszeit. Die meisten hatten nichts mit den Wahlen zu tun. Der Staat „Plebiszit Schleswig“ musste sich selbst versorgen. Die Kommission schaffte es mit einem sogenannten Volkswirtschaftsrat, der dem Kleinststaat eine Planwirtschaft auferlegte. Einmal mussten Lebensmittel exportiert werden, um im Gegenzug Kohle zu bekommen. Um eine Explosion der Preise zu verhindern, wurden zum Beispiel für Eier Höchstpreise festgelegt. Professor Danker ist sicher, die Planwirtschaft von 1920 war eine der wenigen, die auch funktioniert hat.
Ein kluger Schachzug der Kommission zahlte sich besonders aus. Der Staat „Plebiszit Schleswig“ durfte eigene Briefmarken drucken. Philatelisten in aller Welt stürzten sich darauf. Nur ein Drittel wurde im Abstimmungsgebiet wirklich auf Karten und Briefe geklebt. Der Rest an Sammler verkauft, die damit die Kasse des Übergangstaates füllten.
von
Günter Schwarz – 09.02.2020