In der Arktis hat es in diesem Sommer noch nie da gewesene Waldbrände gegeben, Hitze, Trockenheit und zerbrochene Eisschelfe. Das Meereis im Nordpolarmeer schrumpfte auf ein Minimum. Die Entwicklungen betreffen auch die mittleren Breiten über kurz oder lang, denn was in der Arktis passiert, bleibt nicht in der Arktis.

Gerne werden die Polargebiete als das ewige Eis bezeichnet. Für die Arktis stimmt das nur noch bedingt. Vom größten noch verbliebenen Eisschelf der Arktis in Grønland brachen im August rund 110 Quadratkilometer ab, auch das größte noch intakte Eisschelf in Kanada gibt es in seiner ursprünglichen Form nicht mehr. Ende Juli verlor das 4.000 Jahre alte Milne-Eisschelf auf Ellesmere Island 80 Quadratkilometer bzw. 43 Prozent seiner Fläche.

Die Spirale dreht sich immer schneller. Die Arktis erwärmt sich weit stärker als andere Teile der Erde, in den vergangenen 40 Jahren stiegen die Temperaturen im hohen Norden dreimal so stark wie im globalen Durchschnitt. Der weltweite Temperaturanstieg wird vom Albedo-Effekt überlagert und noch verstärkt. Das bedeutet, dass Eis bzw. Schnee einen Großteil des Sonnenlichts zurück ins Weltall reflektiert, es kühlt sich sozusagen selbst.

Wird es wärmer, ist das Eis dünner, schmilzt früher, und das dunkle Wasser bzw. die Felsen kommen zum Vorschein. Dunkle Flächen nehmen die Sonnenstrahlung auf und erwärmen sich stärker. Die Folge: Die Temperaturen nehmen weiter zu, und noch mehr Eis kann schmelzen – ein Teufelskreis.

Die Wärme in der Arktis in den letzten Jahrzehnten ist einmalig für die letzten 2.000 Jahre, das weiß man aus Untersuchungen von Sediment- und Eisbohrkernen sowie Baumringen. In diesem Sommer wurden im hohen Norden noch nie da gewesene Temperaturen gemessen. Ganz besonders betroffen war Sibirien mit einer extrem langen Hitzewelle, im Juni wurden in der Stadt Werchojansk +38 Grad Celsius erreicht.

Das war die höchste jemals innerhalb des Polarkreises gemessene Temperatur. Ohne Klimawandel und den Einfluss des Menschen wäre diese Hitzewelle so gut wie unmöglich gewesen, so eine Studie führender Klimaforscher und -forscherinnen.

Begünstigt durch die Trockenheit kam es zu riesigen Waldbränden. Allein in der russischen Teilrepublik Jakutien verbrannten mehrere Millionen Hektar Land. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen des Atmosphärenüberwachungsdienstes Copernicus schätzen, dass alleine durch die Brände nördlich des Polarkreises bis zum 31. August 244 Megatonnen CO₂ freigesetzt wurden.

Das übertrifft den Rekord vom letzten Jahr noch einmal deutlich, als im ganzen Jahr 181 Megatonnen freigesetzt wurden. Die Auswertung von Sedimentbohrkernen aus Alaska zeigt, dass die Brände im hohen Norden mittlerweile ein einmaliges Niveau für die letzten mindestens 10.000 Jahren erreicht haben.

Auch in Spitzbergen verlief der Sommer extrem warm. In der nördlichsten Siedlung der Erde wurden im Juli drei Tage hintereinander 17 und18 Grad gemessen. Eine Hitzewelle, denn in manchen Jahren erreicht die Temperatur in Spitzbergen nie mehr als zehn Grad. In den letzten 40 Jahren gab es dort insgesamt nur drei ähnlich warme Tage wie in diesem Jahr.

Die Folge ist, dass der Schwund des arktischen Meereises im Sommer besonders groß war. Am Ende des Winters waren über 15 Millionen Quadratkilometer Meer von Eis bedeckt, jetzt sind nur noch 3,7 Millionen Quadratkilometer übrig. Das ist der zweitniedrigste Wert, seit es Aufzeichnungen gibt, nur 2012 war noch etwas weniger Eis am Ende des Sommers vorhanden.

Zum jährlichen Minimum Mitte September ist die Eisfläche – im langjährigen Schnitt von 1981 bis 2010 – noch 6,3 Millionen Quadratkilometer groß. Und der langfristige Trend zeigt deutlich nach unten, schon in wenigen Jahrzehnten könnte es rund um den Nordpol im Sommer so gut wie kein Eis mehr auf dem Meer geben.

Nutznießer dieser Entwicklung ist die Schifffahrt. Der Seeweg an der arktischen Küste Russlands, die Nordostpassage, war dieses Jahr schon im Juli eisfrei und ist es auch jetzt noch immer. Das Eis hat sich hier bis auf 1.000 Kilometer an den Nordpol zurückgezogen. Schon seit zwei Monaten können Frachtschiffe von Europa auf dem Weg nach Asien viel Zeit und Geld sparen. Gegenüber der traditionellen Route vom größten Hafen Europas, Rotterdam, nach Tokio durch den Sueskanal (21.000 Kilometer) ist die Nordostpassage 7.000 Kilometer kürzer. Noch vor nicht allzu langer Zeit wäre eine Fahrt ohne Eisbrecher auch im Sommer völlig undenkbar gewesen.

Im Sommer 2009 wurde die Nordostpassage von der Bremer Beluga-Reederei zum ersten Mal durchfahren. Mittlerweile ist der Schiffstransport durch die Arktis schon fast zur Normalität geworden. Auch die Nordwestpassage durch den Kanadischen Archipel war im diesjährigen Sommer eisfrei. Von New York nach Tokio ergibt sich gegenüber der Fahrt durch den Panamakanal eine Ersparnis von 4.500 Kilometern.

Was in der Arktis passiert, bleibt aber nicht in der Arktis: Das zurückweichende Eis ist nicht nur ein Problem für Eisbär und Co. Die Entwicklung in der Arktis betrifft die gesamte Menschheit. Der Permafrostboden taut durch die Erwärmung auf und setzt bisher gebundenes Methan frei, ein weitaus aggressiveres Treibhausgas als CO₂. Auch das ist ein Teufelskreis: Je mehr Treibhausgase in der Atmosphäre sind, umso wärmer wird es – und umso mehr taut der Permafrost auf.

Die Schmelze in Grønland steuert zum Meeresspiegelanstieg bei. Auch das Klima in Europa ändert sich. Der Antrieb des europäischen Wetters wird maßgeblich vom Temperaturunterschied zwischen kalter Arktis und den heißen Subtropen bestimmt. Wird es in der Arktis wärmer, beginnt der polare Jetstream zu schwächeln. In dieses Starkwindband sind Hochs und Tief eingebettet und schlängeln sich in mittleren Breiten um die Nordhalbkugel.

Durch den schwächeren Jetstream werden bestimmte Wetterlagen stabiler und dauern länger. Hochdruckgebiete etwa können länger über bestimmten Gebieten verharren und Hitze und Dürre verursachen, während Tiefdruckgebiete ebenfalls langsamer weiterziehen und zu langanhaltendem Regen und Überschwemmungen führen können.

von

Günter Schwarz – 21.09.2020

Fotos: Archivbilder