Vor einem Jahr Angriffe auf Juden: Henrik und Ella fürchten Wiederholungen
(Randers / Silkeborg) – Es ist heute ein Jahr her, als eine Familie mit einem jüdischen Stern in ihrem Briefkasten aufwachte und Randers am 81. Jahrestag der Reichsprogromnacht vom 09. November 1938, die umgangsspachlich noch unter dem Nazi-Jargon „Reichskristallnacht“ bekannt ist, von mehreren Fällen antisemitischen Vandalismus getroffen wurde.
Heute vor genau einem Jahr, dem 9. November, erwachte das Ehepaar Ella und Henrik Chievitz aus Silkeborg mit einer unangenehmen Erfahrung. Auf ihrem Briefkasten befand sich ein Aufkleber mit einem jüdischen Stern, wie ihn die Nazis 1941 die Mitbürger jüdischen Glaubens gezwungen hatten, sichtbar zu tragen, damit sie als Juden identifiziert werden konnten.
Der Vorfall an diesem Samstagmorgen traf die Familie an diesem Tag besonders hart, da es der 81. Jahrestag der Progromnacht war. Eine Nacht, in der Nationalsozialisten jüdische Geschäfte, Synagogen, Häuser und Schulen in Deutschland zerschlugen und gar anzündeten. Ella Chievitz ist Jüdin und Israeliin. Sie hat sich vor 30 Jahren in Dänemark niedergelassen und neben dem jüdischen Stern im Briefkasten haben sie und ihre Familie aufgrund ihrer Religion bereits Morddrohungen über Facebook erhalten.
„Es ist gruselig. Es ist kein Zufall. Einige haben Zeit damit verbracht, im Internet nach unserer Adresse zu suchen, und dann haben sie den Stern selbst gemacht. Es ist kein Stern, den man überall kaufen kann“, sagt Henrik Chievitz.
Nach der hässlichen Überraschung am Briefkasten vor einem Jahr hat die Familie beschlossen, bei sich zu Hause eine Videoüberwachung einzurichten. „Das ist traurig. Von der Arbeit nach Hause zu kommen sollte der sicherste Ort sein, von dem man die Außenwelt ausschließen kann. Aber dann kommt man in eine Situation, in der eine Überwachung notwendig ist und genau das Gegenteil von Sicherheit signalisiert“, sagt Henrik Chievitz heute..
Die Familie befürchtet, mit einer weiteren hässlichen und hasserfüllten Überraschung in oder vor ihrem Haus aufzuwachen. „Wir versuchen nicht, uns von Angst regieren zu lassen, aber ich weiß, dass es wieder passieren kann. So füllt es unseren Alltag aus. Wir versuchen, mit der Kamera Sicherheit zu schaffen“, sagt Henrik Chievitz. Das Ehepaar meldete den Fall der Midt- og Vestjyllands Politi (Mittel- und Westjütland Polizei), die den Fall jedoch nicht lösen konnte.

In derselben Nacht, in der der Stern letztes Jahr zum 81. Jahrestag der Progromnacht auf den Briefkasten geklebt wurde, wurden 84 Grabsteine auf einem jüdischen Friedhof in Randers übermalt oder umgeworfen. Am nächsten Tag erhielt die Østjyllands Politi (Ostjütland Polizei) auch einen Bericht über Vandalismus mit einem Davidstern an einem Gebäude an der Kreuzung von Mariagervej und Rådmands Boulevard in Randers.
Die Vorfälle auf die Progromnacht im letzten Jahr und die jüngsten Angriffe mit antisemitischem Hintergrund in Frankreich und Österreich in diesem Jahr führen dazu, dass die Østjyllands Politi ihre Sichtbarkeit an ausgewählten Orten verschärft, wie Polizeiinspektor Brian Voss Olsen sagt. „Es besteht kein Zweifel, dass wir uns sehr bewusst waren, was in Europa geschehen ist, zuletzt sowohl in Frankreich als auch in Österreich. Wir sind uns aber auch bewusst, dass es im letzten Jahr einen Vorfall gegeben hat, und wenn wir alles zusammenfügen, werden wir heute Abend besonders aufmerksam sein“, sagt Brian Voss Olsen.
Im Zusammenhang mit dem 81. Jahrestag der Reichsprogromnacht in Deutschland werden heute in Randers und Aarhus Demonstrationen zum Gedenken an das historische Ereignis stattfinden. Auch hierauf wird die Østjyllands Politi verschärft ihre Aufmerksamkeit lenken. „Der Ausgangspunkt für uns ist, zu verhindern, dass Vandalismus oder ähnliches auftritt, wie wir zuvor erlebt haben. Daher sind wir an ausgewählten Orten sichtbar präsent, an denen wir den Verdacht haben, dass einige provozieren könnten“, sagt Brian Voss Olsen.

Im Oktober 2020 wurde auf dem jüdischen Friedhof und gegen den Davidstern am Gebäude in Randers im Jahr 2019 ein Urteil wegen Vandalismus gefällt. Zwei Männer, ein 28-jähriger Mann aus Randers und ein 39-jähriger Mann namens Jakob Vullum Andersen aus Hobro saßen auf der Anklagebank. Jakob Vullum Andersen wurde zu einem Jahr Freiheitsstrafe ohne Bewährung verurteilt, während der 28-jährige Mann vor der Verurteilung zu einer psychiatrischen Untersuchung geschickt werden musste. Das Gericht stellte fest, dass Jakob Vullum Andersen der Anstifter des Vandalismus war, während der 28-jährige Mann für dessen Durchführung verantwortlich war.
Nach Angaben der Polizei hatten die beiden Männer bereits im Juni 2019 im Ceres Park in Aarhus Farbe über eine Regenbogenbank gegossen. Es konnte jedoch nicht nachgewiesen werden, ob die Männer auch mit dem Judenstern am Briefkasten der Familie Chievitz in Silkeborg verbunden werden konnten. Die beiden verurteilten Straftäter sind beide Aktivisten der „Nordischen Widerstandsbewegung“ – auch „Nordfront“ genannt, einer Neonazi-Bewegung.

In den letzten Jahren haben sich die Geheimdienste im In- und Ausland auf die terroristische Bedrohung durch rechtsextremistische Kreise konzentriert. Dieses gilt zum Beispiel für Gruppen wie die „Nordische Widerstandsbewegung“. Die Einschätzung vom PET (Politiets Efterretningstjeneste / Dänischer Inlandsnachrichten-und Sicherheitsdienst) zur terroristischen Bedrohung Dänemarks im Jahr 2020 lautet: „Die terroristische Bedrohung durch Rechtsextremisten in Dänemark hat zugenommen und ist nun so beschaffen, dass das CTA (Center for Terror Analysis) das Bedrohungsniveau von der begrenzten auf die allgemeine Ebene erhöht.“
Es wird weiter ausgeführt, dass ein rechtsextremistischer Terroranschlag in erster Linie „gegen Muslime und Moscheen, Asylsuchende und Asylzentren, Juden und Synagogen sowie Menschen anderer ethnischer Herkunft gerichtet ist, einschließlich der Orte, an denen sich solche Menschen versammeln sollen“. Und genau diese Einschätzung spricht für Henrik Chievitz‘ Befürchtung, dass es sich nicht nur um „einzelne Narren“ handelt, die den Judenstern an den Briefkasten der Familie klebt.
„Es gibt höchstwahrscheinlich nicht so viele von ihnen, aber es sind keine isolierten Wahnsinnigen. Es gibt jemanden, der es organisiert und ein Ziel hat. Es gibt einige, die sich organisieren können und die Fähigkeit und den Willen haben, das Ziel zu erreichen“, sagt Henrik Chievitz.


von
Günter Schwarz – 09.11.2020
Fotos: Midt- og Vestjyllands Politi / Østjyllands Politi