(Haderslev) – Die Heldentat von Kapitän Gustav Schröder brachte den Sohn der Stadt von Haderslev über Kuba bis hin zum israelischen Ehrenplatz in Yad Vashem. Unter den Namen „der Gerechten unter den Völkern“ in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem findet sich unter dem Buchstaben S der Name des weltberühmten Oskar Schindler, aber weiter unten auf der Liste hat der Name eines gebürtigen Hadersleverner, der aus der deutschen Minderheit stammte, einen Ehrenplatz in Jerusalem: Gustav Schröder.


Käpitän der „St. Louis“, Gustav Schröder
An seine Heldentat zur Rettung von 937 Juden als Kapitän der „St. Louis“ erinnerte erst kürzlich das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, nachdem ein in der Nähe von Hamburg lebender Großneffe, Jürgen Glavecke, 2015 die Seemannskiste seines Großonkels entdeckt hatte und darin neues über die Irrfahrt von Gustav Schröder erfuhr, „der 1939 die Welt im Atem gehalten hatte“, so Spiegel-Online unter der Überschrift „Der Kapitän“.

Die Irrfahrt der „St. Louis“ war eine Reise von 937 nahezu ausnahmslos deutschen Juden auf der „St. Louis“, einem Passagierschiff der Hamburger Reederei HAPAG unter dem Kommando des Käpitäns Gustv Schröder, im Mai-Juni 1939 von Hamburg nach Kuba und zurück nach Antwerpen. Die Passagiere wollten, um dem NS-Regime zu entkommen, nach Kuba auswandern, erhielten aber weder dort noch in den USA die Landeerlaubnis. Sie wurden schließlich in Antwerpen von Bord gelassen und auf Belgien, die Niederlande, Frankreich und Großbritannien verteilt.

In der offiziellen Eintragung von Yad Vashem aus dem 1993 heißt es über Gustav Schröder: „Schröder war Kapitän des HAPAG-Passagierschiffs ,St. Louis‘. Das Schiff war 1939 mit über 900 jüdischen Flüchtlingen an Bord von Hamburg nach Amerika gefahren, dort wurden sie aber sowohl von Kuba wie auch von den USA abgewiesen. Zurück in Europa unternahm Schröder alles, um nicht nach Deutschland zurückkehren zu müssen; er erwog sogar, das Schiff vor Großbritannien auf Grund zu setzen. Schließlich erklärten sich verschiedene Länder bereit, die an Bord befindlichen Juden aufzunehmen.“

Wer war dieser nordschleswigsche Held, der in seiner eigenen Heimat fast unbekannt geblieben ist? Adjunkt Henrik Heinemeier von der Haderslebener Kathedralschule hat einen verdienst- und wertvollen Beitrag über den Hintergrund verfasst, der unter der Überschrift „ Gustav Schröder – en retfærdig blandt folkene“ (Gustav Schröder – ein Gerechter unter den Nationen) im Archiv „Haderslev Historie“ zu finden ist.

Gustav Schröder wurde am 27. September 1985 in Haderslev geboren und am 25. Oktober in „Vor Frue Kirke“ auf den vollen Namen Gustav Adolf Ernst Theodor Schröder getauft. Wikipedia vermerkt: „Schröder stammte aus einer alten reichsdänisch-deutschen kulturengagierten Familie aus dem Grenzland.“ Seine Eltern waren der Gymnasiallehrer Nis Ankjær Schröder und dessen Frau Johanne Elisabeth, geborene Pomnitz. Die Großeltern waren Gutsbesitzer. Gustav war der erste Junge unter neun Geschwistern, ein Bruder starb frühzeitig. Die Familie wohnte in der Storegade 9, später in der Schulstraße, wo Gustav den größten Teil seiner Kindheit verbrachte. Von hier aus konnte man den Arbeitsplatz des Vaters sehen, das Gymnasium und Real-Progymnasium. Schröder war laut Heinemeier eine bekannte Persönlichkeit. Selbst 1849 in Gramm als Sohn des Malermeisters Gotsche Schröder geboren, bestand er 1870 das Abitur am preußischen Gymnasium.

Danach folgte ein Universitätsstudium in den Fächern Deutsch und Latein. 1879 kehrte er an seine frühere Schule zurück, ab 1882 als „Ordentlicher Lehrer“ tätig, später trug er den Titel „Professor“. In der Zeit von Kaiser Wilhelm II. wurde die Schule deutsch-nationaler, Nis Schröder machte sich als Vorkämpfer der Deutschen in Haderslev bemerkbar, angeblich soll er als Lehrer Schüler aus dänischen Häusern provoziert haben. In den 1890er Jahren schloss sich Nis Schröder dem deutschen Verein in der Domstadt an, redigierte die Zeitschrift „Die Nordmark“ und wurde sogar zum Vorsitzenden eines ersten deutschen Ortsvereins gewählt. Er galt als „Altdeutscher“. Mit seinem Vollbart und dicken Brillen war er bei Kindern gefürchtet.

Gustav Schröder wuchs in einem bürgerlich gebildeten, deutsch-nationalen Elternhaus auf. In der Sønder Ottinggade (heute Nummer 12) baute sich der Vater später ein eigenes Haus. Da hatte sich Gustav aber schon aus Haderslev verabschiedet. Gustav verließ das Gymnasium 1902 in der Obersekunda, ihn zog es nach eigenen Worten „in die Ferne“, er wollte zur See fahren trotz seines schmächtigen Körpers von nur 1,46 Meter Größe und einem Gewicht von 33 Kilogramm. Die Schule hing ihm zum Halse raus, hat er später geschrieben. Im Alter von knapp 17 Jahren verließ er mit der Einwilligung seines Vaters Haderslev, um zusammen mit einigen Kameraden in Hamburg auf dem Segelschulschiff „Großherzogin Elisabeth“ anzumustern. Auch die anderen Kinder folgten nicht in die akademischen Fußspuren des Vaters.

Das gilt auch für den vier Jahre jüngeren Bruder von Gustav, Ernst Friedrich Wilhelm Schröder, der ebenfalls vor dem Abitur die Lateinschule verließ. Ernst Schröder wurde eine führende Person in der deutschen Minderheit in der Zeit von 1920-1945, nicht zuletzt seit 1929 als einflussreicher Vorsitzender der „Nordschleswigschen Zeitung“ (NZ). Während Ernst Schröder den nationalsozialistischen Weg der Minderheit maßgeblich mitging, machte sein Bruder Gustav eine maritime Karriere. Beide Brüder waren aber Parteimitglieder der NSDAP– Gustav seit dem 1. Dezember 1933 mit der Mitgliedsnummer 3286996.


Während deutsche Minderheitenzeitung „NZ“ nichts über die Irrfahrt der „St. Louis“ berichtete, hatte Haderslevs dänische Zeitung „Dannevirke“ am 8. und 20. Juni 1939 diese Meldungen auf Seite 1 – offenbar aber nicht wissend, dass ein Hadersleverne die „St. Louis“ kommandierte.
Decksmatrose auf dem Schnelldampfer „Deutschland“
Er verließ das Segelschulschiff mit dem Patent zum Leichtmatrosen. Danach heuerte er als Decksmatrose auf dem Schnelldampfer „Deutschland“ an, und es folgten mehrere Reisen rund um den Globus. Nach der Segelschiffzeit fuhr er bei Hongkong-Reedereien als Zweiter Offizier. 1914 wurde er von den Briten in Kalkutta interniert; erst 1920 kam er wieder frei. 1921 heuerte er bei der HAPAG an und verdiente zwölf Jahre auf „Trampfahrt“ seine Streifen. 1935 wurde Gustav Schröder Offizier auf dem Passagierschiff „Hansa“ der Albert-Ballin-Klasse. Im August 1936 erhielt er mit 50 Jahren das Kapitänspatent und übernahm das Fahrgastschiff „Ozeana“, das 700 Passagiere aufnehmen konnte.

Schröder leitete zahlreiche KdF-Fahrten ins Mittelmeer und nach Skandinavien und übernahm Urlaubsvertretungen auch auf Schiffen, die zwischen Hamburg und New York verkehrten, unter anderem auch auf der „St. Louis“, die am 13. Mai 1939 von den Landungsbrücken im Hamburger Hafen – eine Kapelle spielte „Muss I denn zum Städtele hinaus“ – mit dem Ziel Kuba auslief. An Bord befanden sich 937 Juden, zumeist Deutsche. Laut Passagierschein waren sie „Touristen auf einer Vergnügungsreise“, und sie wurden auf dem Kreuzfahrtschiff der Hapag – 17.600 BRT, 173 Meter lang, drei blitzende Decks mit Spiegelsalon, Pool, Kino, Tanzkapelle und Teppichen, in denen die Füße versinken – so respektvoll begrüßt wie normale Luxusurlauber, die mit dem Dampfer den Atlantik überqueren. Schröder selbst beschreibt in seinen Erinnerungen, wie sich die anfangs „nervöse Stimmung“ bald entspannte: „Zuversicht und Hoffnung blühten und niemand regte sich auf.“

Am 27. Mai macht die „St. Louis“ frühmorgens an der Pier von Havanna fest, die Kapelle spielte „Freut euch des Lebens“, doch Bewaffnete zwangen die Passagiere zurück und besetzten die Gangway. Schröder verhandelte, klagte, bat und schrieb Dutzende Telegramme – vergeblich. Mit einem Komitee aus Passagieren versuchte er, die Kontrolle zu wahren und plante nachts sogar „Selbstmordverhütungsrundgänge“. Nach langen Verhandlungen von Kapitän Gustav Schröder durften schließlich 29 Passagiere aus „humanitären Gründen“ von Bord gehen: 22 deutsche Juden, deren Visa als gültig anerkannt wurden, sowie vier Passagiere mit spanischen und zwei mit kubanischen Pässen und einer, der einen Suizidversuch unternommen hatte. Anschließend wurde die „St. Louis“ gezwungen, den Hafen von Havanna am 02 Juni 1939 zu verlassen, und zum ersten Male konnte der Kapitän die Frage nicht beantworten, wohin das Schiff nun fahren werde.

Er nahm Kurs auf die Küste von Florida und hoffte auf die Amerikaner. Doch US-Präsident Roosevelt hatte ein strammes Quotensystem zur Begrenzung der Einwanderung eingeführt. Jährlich durften nur 25.957 Deutsche in die USA einreisen – Ausnahmen für Juden gab es nicht. Schröder plante sogar eine illegale Landung, doch die wurde u. a. durch US-Flugzeuge der Coast Guard verhindert. Das Drama setzte sich fort mit widersprüchlichen Funksprüchen zwischen Warten und Umkehr. Schröder pendelte im Zickzack-Kurs zwischen Kuba und Florida, auch eine zunächst zugesagte Landung in der Domikanischen Republik scheiterte – ebenso wie spätere Landungsversuche auf der kubanischen Insel Pionosa und auch in New York. US-Präsident Roosevelt gab auf Drängen seines Außenministers nicht nach, während die deutsche NS-Presse die Irrfahrt verhöhnte. Unter den Passagieren, unter den sich Todesangst ausbreitete, gab es zahlreiche Nervenzusammenbrüche.
„Wir fürchten das KZ mehr als den Tod.“

Als der Kraftstoff an Bord knapp wurde und die St. Louis nach Europa zurückkehren sollte, sagten Passagiere: „Wir fürchten das KZ mehr als den Tod.“ Schröder als ihr Verbündeter überlegte sogar, vor der britischen Küste einen Schiffsbrand vorzutäuschen, um so eine Einreise zu erreichen, doch nach vierwöchiger Irrfahrt einigten sich England, Belgien, die Niederlande und Frankreich in letzter Minute, die Flüchtlinge doch aufzunehmen.

Am 17. Juni machte die „St. Louis“ in Antwerpen fest. Die Passagiere konnten von Bord gehen, aber von den rund 900 Passagieren starben später dennoch mindestens 254, weil sie in den besetzten Ländern doch noch von den Nazis gefasst und danach in die Todeskammern geschickt wurden.

Am 1. Januar 1940 ging Gustav Schröder nach 38 Jahren in Hamburg von Bord. Nie mehr durfte er danach ein Schiff steuern und übernahm bis Kriegsende in der Deutschen Seewarte eine Beschäftigung.

Die Odyssee Kapitän Gustav Schröders und der „St. Louis“ wurde 1976 in den Hauptrollen mit Faye Dunaway und Max von Sydow als Gustav Schröder unter dem Titel „Reise der Verdammten“ (Voyage of Damned) verfilmt.

Schröder fand national und international hohe Anerkennung für seinen mutigen Einsatz zur See. 1957 erhielt er „für Verdienste um Volk und Land bei der Rettung von Emigranten“ das Bundesverdienstkreuz am Bande, der Staat Israel ehrte ihn posthum im Kreise der „Gerechten unter den Völkern“ – ebenso wie den deutschen Diplomaten Georg-Ferdinand Duckwitz, der entscheidend zur Rettung der dänischen Juden 1943 nach Schweden beitrug. Im Februar 1990 wurde in Hamburg-Langenhorn die Straße „Kapitän Schröder-Weg“ nach ihm benannt, seit 2000 gibt es an den Landungsbrücken eine ausführliche Gedenktafel, und Ende 2017 wurde eine Grünfläche zwischen Kirchenstraße und der Kirche St. Trinitatis in Altona in „Kapitän Schröder-Park“ umbenannt.


Der Kapitän-Schröder-Weg in Hamburg-Langenhorn
Selbst beschrieb Gustav Schröder 1949 in einem Buch „Heimatlos auf hoher See“ erstmalig das Drama der „St. Louis“. Im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ wurde der Großenkel nach den möglichen Motiven befragt, und er verwies auf „zarte Hinweise“ auf Schröders Innenleben aus der lange verschollenen Seemannskiste mit Postkarten an seinen geistig behinderten Sohn Rolf, liebevoll unterzeichnet mit „Der Papitän“. Liegt hier der Schlüssel zu Schröders humanem Handeln, der Empathie für andere Verfolgte geweckt hat?

Großenenkel Glaeveke glaubt, dass Gustav Schröder seine grundsätzliche Prägung schon in seiner Hadersleverne Kindheit erfahren hat. In seinen Erinnerungen darüber schrieb Gustav Schröder: „Ich muss an einen alten Lehrer denken, der uns Schülern immer wieder Toleranz predigte. Er sagte nie ein böses Worte über einen Mitmenschen, nicht einmal über seine Widersacher. Tragt euch gegenseitig nichts nach. Ein wirklich gebildeter Menschen tut das nicht.“

Nordschleswig vergisst Gustav Schröder nie. Laut Heinemeier wird sein letztes Werk „Meer und Wald“ 1958 bei Haderslevs Buchdrucker W. L. Schütze veröffentlicht, der nach dem 02. Februar 1946 entscheidenden Anteil an der Herausgabe der damaligen Wochenzeitung „Der Nordschleswiger“ hatte.

Was aber geschah mit seinem Bruder Ernst, der 1939 Aufsichtsratsvorsitzender der Nordschleswigschen Zeitung war? Über seinen Bruder Gustav und dessen Odysse ist in der „NZ“ nichts zu finden, doch am 2. Juni 1939 tauchen in der „NZ“ unter der Überschrift „Keiner will sie haben“ zwei kurze Meldungen auf über die gescheiterte Flucht von zwei deutschen Schiffen mit jüdischen Flüchtlingen – ohne jeden Hinweis auf die „St. Louis“.

Ernst Schröder wurde als Mit-Hauptangeklagter im Minderheiten-Prozess auch wegen antisemitischer Artikel, die er vor Gericht bedauerte, 1948 in Abenraa zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. 1951 starb Ernst Schröder in Flensburg – ohne Ehren. Sein Bruder Gustav Schröder starb 1959 in Hamburg – in Ehren!

von

Günter Schwarz – 03.02.2018