(ankara) – In der Türkei findet am heutigen Sonntag ein Superwahltag statt, denn Parlament und Präsident werden am selben Tag gewählt. Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, der sein Land seit 16 Jahren zunehmend terroritär regiert, hat die Wahlen um mehr als ein Jahr vorgezogen. Damit wollte er seine Macht für die Zukunft zementieren, sagen Beobachter. Etwa 56 Millionen der 81 Millionen Türken und Türkinnen werden über das Schicksal des Landes am Bosporus entscheiden. Ob sie sich jedoch mehrheitlich für Erdoğan aussprechen, ist unsicher, die Opposition ist stärker denn je. Sogar Erdoğan selbst lässt sich erste Zweifel anmerken.

Ohne Zweifel ist diese Wahl für die Türkei richtungsweisender denn je. Mit ihr wird nämlich auch eine Verfassungsänderung in Kraft treten, über die bereits im April vergangenen Jahres abgestimmt wurde. Mit knapper Mehrheit entschied sich die Bevölkerung in dem Referendum für das von Erdoğan angestrebte Präsidialsystem. Dieses sieht eine Bündelung der Exekutivbefugnisse in der Hand des Präsidenten vor, der dann praktisch wie ein Autokrat bzw, „Alleinherrscher“ regieren kann und die in einer funktionierenden Demokratie herrschenden Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative praktisch ad absurdum stellt.

Das Präsidialsystem schließt sowohl die Bestimmung von Gesetzesdekreten mit ein als auch die Bestimmung des Kabinetts, des Vizepräsidenten und der obersten Richter des Landes. Unter anderem soll auch der Ministerrat als Staatsorgan abgeschafft werden, damit entfällt das Amt des Ministerpräsidenten. Mit der Umsetzung dieses Systems begann Erdoğan bereits kurz nach der Abstimmung. Erdoğans Gegner und Gegnerinnen befürchten, das neue System ermögliche eine „Einmannherrschaft“. Die Verfassungsexperten und -expertinnen der „Venedig-Kommission“ des Europarates warnten mit Blick auf die Reform vor einem „gefährlichen Rückschritt in der verfassungsmäßigen demokratischen Tradition der Türkei“.

Die türkische Verfassung verlangt, dass die Parteien mindestens zehn Prozent der Stimmen im Land erhalten müssen, um ins Parlament einzuziehen – ein von Erdoğan durchgesetzes Gesetz, das Großparteien wie seine AKP bevorzugt. Eine neue Regelung erlaubt es den Parteien jedoch, sich zu Bündnissen zusammenzuschließen. So können auch kleinere Parteien zum Zug kommen, sofern ihr Bündnis als Ganzes über zehn Prozent kommt. Insgesamt geht es um 600 Sitze in der 27. Nationalversammlung in Ankara.

Es gilt als möglich, dass Erdoğan die erste Runde der Präsidentschaftswahl gewinnt, jedoch nicht mit absoluter Mehrheit von über 50 Prozent der Stimmen. In diesem Fall würde es am 8. Juli zu einer Stichwahl der beiden Topplatzierten kommen – glaubt man den Umfragen, wahrscheinlich gegen Ince oder Aksener. Zwar werde Erdoğan immer noch knapp die Nase vorn haben, so der britische „Guardian“, es könnte aber ein Kopf-an-Kopf-Rennen werden. Dieses hänge davon ab, ob die oppositionellen Kandidaten konservative, nationalistische, aber auch kurdische Wähler und Wählerinnen für sich gewinnen können.

von

Günter Schwarz – 24.06.2018