Wenige Tage vor der deutschen Bundestagswahl am kommenden Sonntag, scheint die Sache entschieden: Angela Merkel (CDU), die seit dem 22. November 2005 Bundeskanzlerin ist, wird mit allergrößter Wahrscheinlichkeit in dem Amt bestätigt werden. Als entsprechend uninteressant galt der Wahlkampf. Die fehlende Polarisierung zwischen den beiden großen Volksparteien und Koalitionspartnern CDU/CSU und SPD polarisierte ihrerseits, woraus sich die Frage ergibt: „Steckt Feigheit oder politische Vernunft dahinter?“

Langweilig – so lautet das vermutlich meist gefällte Urteil über den deutschen Bundestagswahlkampf. Er beobachte eine „Stilllegung“ bestimmter Themen, beklagte etwa Thomas Krüger, Präsident der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung. „Es scheint sich zu bewahrheiten, dass große Koalitionen der öffentlichen politischen Auseinandersetzung nicht unbedingt guttun und den Wahlkampf in Teilen ad absurdum führen“, sagte Krüger vergangene Woche der „Frankfurter Rundschau“. In den Vordergrund rückten Themen, bei denen sich Union und SPD weitgehend einig seien. „Wer will schon sein eigenes Regierungshandeln grundsätzlich kritisieren?“

„Danke für die Langeweile!“

Die scheinbare Monotonie, die Krüger beklagt, wird in vielen Medien dennoch wohlwollend zur Kenntnis genommen. „Danke für die Langeweile!“, titelte der „Spiegel“, „Endlich deutsche Langeweile“ die „Zeit“, „Wahlkampf ist kein Werbefernsehen“ ließ „Der Tagesspiegel“ wissen.

Grundtenor der Kommentare: Langeweile sei nicht nur das Produkt von Stillstand, sondern auch von Sachlichkeit. Politik habe nicht die Aufgabe, unterhaltsam zu sein. Sich kurzweilige Politik zu wünschen, impliziere eine Ablehnung des zivilisierten Diskurses, Streit und Häme führten zu politischem Chaos, wie man am Beispiel der USA derzeit sehen könne.

Unverhohlener Hass im Osten

Der gefühlten Langeweile stehen Zahlen des deutschen Bundeskriminalamts (BKA) entgegen: Wie die „Welt“ am Sonntag berichtete, haben während des Wahlkampfes die Attacken auf Politiker und Sachbeschädigungen zugenommen. Das BKA verzeichnete 2.250 Straftaten, darunter Dutzende Gewaltdelikte. Gleichzeitig schlug Kanzlerin Merkel im Osten des Landes unverhohlener Hass entgegen, „Hau ab!“- und „Merkel muss weg!“-Parolen sowie fliegende Tomaten begleiteten ihre Auftritte bei zahlreichen Wahlkampfauftritten.

„Zwischen Wohlfühlwahlkampf und Wutbürgern – Verstehen die Politiker ihre Wähler noch?“ – unter diesem Titel widmete sich die ARD-Talksendung „Anne Will“ am Sonntag der diffusen Stimmung in der Vorwahlzeit. Einig zeigte sich die Runde vor allem in einem: Wichtige Zukunftsthemen kamen in den vergangenen Wochen zu kurz. Der langjährige Finanzminister Theo Waigel (CSU) machte diesen Vorwurf allen Parteien, sagte aber, dass Themensetzung und Diskussionen im Wahlkampf Aufgabe der Herausforderer seien. Doch die tun sich damit schwer – gerade, wenn sie wie die SPD in den vergangenen Jahren selbst an der Regierung beteiligt waren.

Wähler fühlen sich alleingelassen

Ähnlich sieht es der Politologe Stefan Marschall, der Wahlkampf sei nicht wirklich mobilisierend gewesen: „Eine Polarisierung zwischen den großen Parteien und damit auch der beiden Lager fehlt. Schuld daran ist nicht zuletzt die große Koalition, die die Unterschiede zwischen Union und SPD verschwimmen lässt. Gerade bei dem Thema, das die Menschen am meisten bewegt – Flüchtlinge, Integration, Asyl – bieten die großen Parteien kaum unterschiedliche Antworten.“

Die Wähler fühlen sich alleingelassen und gekränkt: So fasst auch das Kölner Marktforschungsinstitut Rheingold die Befindlichkeit der Deutschen vor der Wahl zusammen. Das Institut hat 50 Wähler und Wählerinnen in zweistündigen psychologischen Gesprächen befragt und dabei festgestellt: „Unter der Oberfläche brodelt und rumort es.“ Das gelte nicht nur für Sympathisanten der rechtsnationalistischen AfD, sondern für große Teile der Bevölkerung, sagte Institutsleiter Stephan Grünewald. „Solches Wüten, so viel Hass bei den Probanden habe ich noch nie erlebt.“


Merkel schlug bei so gut wie jedem Wahlkampfauftritt im Osten Hass entgegen „Zunehmend gefühlte Unsicherheit“
Der Wahlkampf werde als Ablenkungsmanöver empfunden, um den wahren Problemen auszuweichen. Für die meisten Wähler sei die Flüchtlingskrise immer noch ein wunder Punkt, der von der Politik nicht wirklich behandelt worden sei. Die Wähler erwarteten einen Umsetzungsplan, klare Leitlinien und wünschten sich Orientierung. Unfreiwillig fühlten sie sich vor die Entscheidung gestellt, entweder „Gutmensch“ oder „Nazi“ zu sein, fasst Grünewald zusammen.

Auch das soziale Unbehagen im Land wachse. „Deutschland wird trotz seines Wohlstandes als verwahrlostes Land erlebt: marode Schulen, kaputte Autobahnen, No-Go-Areas, Geheimabsprachen zwischen Politik und Industrie, eine sich immer weiter öffnende soziale Schere, eine zunehmend gefühlte Unsicherheit im Alltag. Die Flüchtlingskrise hat dabei das schon lange vorher vorhandene Unbehagen in einer globalisierten Welt fassbar gemacht und weiter zugespitzt.“

„Schutzheilige der Nation“

Wenn dem so ist, warum schneidet die CDU dann in den Umfragen so gut ab? Darauf antwortet Psychologe Grünewald: Die Wähler glauben, dass sie Merkel trotz aller Vorbehalte brauchen – als „moderne Raubtier-Dompteuse“ und „Schutzheilige der Nation“. Aus Angst vor Instabilität und aufgrund einer Sehnsucht nach Sicherheit und Orientierung scheuten sie Veränderung: „Das führt zu einem halbherzigen und angstgetriebenen Wahlverhalten.“

Für den Politikwissenschaftler Uwe Jun beschreibt die Rheingold-Studie eine Stimmungslage, wie sie derzeit in vielen demokratischen Gesellschaften zu beobachten ist: „Die Lücke zwischen den politischen Entscheidungsträgern und den Wählern wächst, weil die komplexen Folgen der Globalisierung mit ihren vielen Unsicherheiten kaum umfassend bewältigt werden können.“ In diesem Zusammenhang haben viele Bürger Erwartungen an die Politik, die in einer globalisierten Welt nur schwer zu erfüllen sein dürften.

„Bringt uns Streit wirklich weiter?“

Sachlichkeit mag da hilflos wirken, sei letztlich aber unverzichtbar, kommentiert die „Zeit“: „Man kann sich aus guten Gründen ärgern über den leidenschaftslosen Wahlkampf von CDU und SPD. Den Ärger und die Wut der aufmüpfigen Bürger scheinen die beiden Parteien im Gebaren großkoalitionärer Einigkeit ersticken zu wollen (…) Doch bringt uns Streit wirklich weiter? Ist die verbale Fehde angesichts der schwierigen Lage des Landes im Jahr 2017 wirklich besser als die konsensuelle Langeweile, die uns die beiden Volksparteien anbieten? (…) Nein, der gelebte und offen zelebrierte Disput treibt Familien auseinander und steigert politische Widersprüche ins Extrem. Er erstickt jede demokratische Diskussion im Keim.“

von

Günter Schwarz – 21.09.2017