EU-Länder nehmen neue Demütigung des türkischen Präsidenten Erdogan hin
Mit der Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten im türkischen Parlament am gestrigen Freitag, von denen allein 59 Abgeordnete der Erdogan kritischen und kurdischen Partei HDP sind, vollzog die Türkei einen weiteren Schritt von einer Demokratie hin zu einer Diktatur ganz im Sinne des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Mit der zwei drittel Mehrheit entschied das Parlament allerdings nicht nur über das weitere Schicksal der Angeordneten, deren Immunität sie bislang vor der strafrechtlichen Verfolgung des Präsidenten in Bezug auf angeblichen Verrat und der ihnen unterstellten Zusammenarbeit mit der verbotenen PKK geschützt hatte, sondern das Parlament stimmte damit gleichzeitig auch seiner eigenen zukünftigen Bedeutungslosigkeit und eventuellen gänzlichen Auflösung zu.
Wer wagt es jetzt noch, Erdogan zu stoppen, sich zum Alleinherrscher und damit zu einer Art „Sultan“ oder „Großwesir“ der Türkei aufzuschwingen, was er seit seiner Ernennung zum Staatspräsidenten unbeirrt anstrebte und was er jetzt mit Hilfe „seines Parlaments“ annähernd erreicht hat? Es ist somit auch nur eine Frage der Zeit, wann er sämtliche Abgeordnete der „Quasselbude“, auch die seiner eigenen AKP-Partei, nach Hause schicken wird, denn er braucht sie jetzt ohnehin kaum mehr. – Und wir Deutschen haben Erfahrung darin, denn wir brauchen uns nur an das Jahr 1933 und an „einen gewissen Herrn“ und seiner gehorsamen Partei erinnern!
Die Innenminister der EU trafen sich derweil, während in der Türkei die sogenannte Abstimmung im Parlament stattfand, in Brüssel, um über die neue Lage in der Türkei zu beraten und wie sich diese auf das „Flüchtlingsabkommen“ zwischen der EU und der Türkei auswirken wird. Von Seiten der Bundesrepublik Deutschland nahm Innenminister Thomas de Maizière an dem Treffen teil und für Dänemark erschien die Ministerin für Ausländer, Integration und Wohnen, Inger Støjberg. Anstatt einen Aufschrei der Entrüstung über die Entscheidung des türkischen Parlaments zu hören, äußerten sich die Minister selten einmütig mehr als zurückhaltend über die aus der Türkei eintreffenden Nachrichten. Europas Kritik gegen diesen Affront war derart leise, dass einem angst und bange vor der Zukunft der EU werden kann.
Einerseits hat die EU mit dem ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten und Regierungschef Davutoglu einen Vertrag abgeschlossen, der die Türkei gegen Zahlung von 6 Milliarden Euro verpflichtet, die Flüchtlinge, aus Syrien, dem Irak und anderen Ländern den Weg über die Ägäis auf die griechischen Inseln zu versperren, und darüber hinaus hat man der Türkei zugesagt, die von ihr lange gewünschte Visafreiheit für Touristenvisa von bis zu 90 Tagen nach Europa zu gewähren, wenn 72 Forderungen bezüglich Freizügigkeit, Meinungsfreiheit und Lockerung der sogenannten „Antiterrorgesetze“ erfüllt würden.
Seinen teilweise eigenständig denkenden und selbstbewusst handelnden Ministerpräsidenten und Regierungschef Davutoglu hat Erdogan kurz nach Abschluss der Verhandlungen entlassen und durch die „Marionette“ Binali Yildirim ersetzt, was vor allem darin begründet lag, dass Davutoglu nicht zügig genug an seiner eigenen Entmachtung arbeitete und damit den Wünschen des Staatspräsidenten Erdogan entsprach.
An der Visafreiheit für seine Bürger ist der Türkei und auch Erdogan schon seit langem sehr gelegen, was er zudem in vielen seiner Reden betont. So scheut er nicht, der EU damit in aller Öffentlichkeit wiederholt zu drohen, dass sie sich, sollten seine diesbezüglichen Erwartungen nicht erfüllt werden, auf einen neuen Flüchtlingsstrom einstellen müsste. Die Forderung der EU, die umstrittenen „Antiterrorgesetze“ zu lockern und europäischem Standard anzupassen , verklingen in Erdogans Ohren ungerührt und, wie die gestrige Abstimmung im Parlament gezeigt hat, erweist sie sich als eine völlig unrealistische Forderung der Europäer.
Die Fronten beider Seiten sind derzeit total verhärtet, und die gestrige Konferenz der europäischen Innenminister hat in keiner Weise an dieser Situation etwas verändert, denn sich „artig abducken“ und ja nichts sagen, um sich nicht festlegen zu müssen, hilft niemanden und schon gar nicht, den gordischen Knoten zu lösen. Zusammenfassend kann man nur konstatieren, diese Konferenz hat gar nichts gebracht, und man hätte sie sich auch sparen können, denn außer Spesen ist absolut nichts gewesen!
Folglich ist die Erwartung des Treffens der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan umso größer, welches für Montag, den 23. September, vereinbart ist und zu dem die Kanzlerin nach Ankara reisen wird. Gelingt es ihr, eine Lösung der überaus schwierigen und verfahrenen Lage zumindest anzustoßen? Es sei ihr zu wünschen, obwohl zu viel Optimismus vollkommen unangebracht ist, da Erdogan in der Vergangenheit eines stets bewiesen hat: man kann sich bei ihm auf alles verlassen, nur nicht auf ihn!
von
Günter Schwarz – 21.05.2016