Der Krieg in der Ostukraine ist aus dem Fokus der meisten Medien verschwunden, denn die Medien konzentrieren sich seit einigen Monaten vornehmlich auf den „Islamischen Staat“, die Schlacht um Aleppo und um die Regionen Syrien, Irak, Kurdistan und die Türkei. Dabei schwelt der Konflikt in der Ostukraine unvermittelt weiter, es wird weiter gekämpft und gestorben; und eine Lösung ist weit und breit immer noch nicht in Sicht. Im Juli starben so viele Soldaten und Zivilisten wie seit einem Jahr nicht.

Der Zug von Kiew nach Kostyantyniwka fährt bis an die Front. Er ist – wie immer – voller Männer in Uniform. Ein Offizier, der in den Osten zurückkehrt, erzählt, er erwarte einen „heißen August“. So viele ukrainische Soldaten und Zivilisten wie seit fast einem Jahr nicht wurden im Juli getötet. Die Regionen in und um Awdijiwka, Marjinka und Mariupol kommen nicht zur Ruhe. „Kleinere Infanterieangriffe, Grad-Raketen, 152-Millimeter-Geschosse. Natürlich erwidern wir das Feuer. Unter unseren Kriegsgefangenen sind jetzt übrigens vermehrt Russen“, sagt ein Soldat.


Ukrainischer Präsident Petro Poroschenko spricht vor Soldaten
In diesem Sommer führte die Ukraine die bislang größten Militärübungen durch, verteilt auf das ganze Territorium. Das Szenario der Drills mit den Namen „Sommersturm“ und „Südwind“: Verteidigung im Falle eines russischen Angriffs aus dem Norden, Süden und Osten. Im Schwarzen Meer und in der Westukraine übte das Land mit der NATO und US-Ausbildern. Nach einer Schätzung der International Crisis Group hat die Ukraine 69.000 Soldaten. Auf der Seite der Separatisten stehen vermutlich 35.000 Mann sowie 8000 unter russischer Führung, zusätzlich noch russische Eingreiftruppen nahe der Grenze, auf russischem Gebiet.

Hintergrund: Der Minsker Friedensplan

Waffenruhe, Abzug schwerer Waffen, Gefangenenaustausch und Wahlen: In zähen Gesprächen wurde in Minsk ein Abkommen zur Beilegung des Ukraine-Konflikts vereinbart. Lesen Sie hier die konkreten Punkte im Überblick.

Die Ukraine und Russland haben sich unter deutsch-französischer Vermittlung beim zweiten Treffen in Minsk auf ein Friedensabkommen geeinigt. Es baut auf den ersten Minsker Vereinbarungen vom September 2014 auf, die nicht umgesetzt wurden. Das konkrete Abkommen haben die Mitglieder der sogenannten Ukraine-Kontaktgruppe unterschrieben. Dazu gehören Vertreter Moskaus, Kiews, der prorussischen Rebellen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Das Maßnahmenpaket umfasst folgende konkrete Punkte:

Waffenruhe: Ab Sonntag, den 15. Februar 2015, 00:00 Uhr Ortszeit (Samstag, 23 Uhr deutscher Zeit) gilt eine „unmittelbare und umfassende“ Waffenruhe.

Abzug schwerer Waffen: Innerhalb von zwei Wochen sollen schwere Waffen aus einer Pufferzone abgezogen werden. Die ukrainischen Truppen müssen ihre Waffen – je nach Kalibergröße und Waffenart – 50 bis 140 Kilometer hinter die aktuelle Frontlinie zurückziehen, die Separatisten genau soweit hinter die im September 2014 in Minsk vereinbarte Grenzlinie. Die OSZE soll die Waffenruhe und den Abzug der Waffen überwachen.

Regionale Wahlen und Sonderstatus von Donesz und Lugansk: Nach dem Abzug der Waffen sollen Gespräche über Wahlen in Donezk und Lugansk beginnen. Die Wahlen sollen von der Kontaktgruppe vorbereitet und international überwacht werden. Das Parlament soll innerhalb von 30 Tagen die Gebiete in den Regionen Donezk und Lugansk festlegen, die einen autonomen Sonderstatus erhalten.

Amnestie: Eine gesetzliche Regelung schützt alle Beteiligten des Konflikts vor Strafverfolgung.

Freilassung aller Gefangenen: Innerhalb von fünf Tagen nach dem Abzug der Waffen sollen alle Gefangenen und Geiseln freigelassen werden.

Humanitäre Hilfe: Beide Seiten sollen humanitäre Hilfeleistungen sicherstellen.

Finanzielle Versorgung der Menschen in der Ostukraine: Beide Seiten sollen an einer Wiederherstellung der Wirtschaftsbeziehungen arbeiten. So sollen zum Beispiel wieder Renten und Steuern an die Menschen in den von Separatisten kontrollierten Gebieten gezahlt werden. Kiew verpflichtet sich, den Bankensektor im Konfliktgebiet wieder aufzubauen.

Grenzkontrolle: Die Ukraine soll die vollständige Kontrolle über die Grenze zu Russland übernehmen. Und zwar einen Tag nach den regionalen Wahlen in den Separatistengebieten und bis zum Abschluss einer umfassenden politischen Regelung, die bis Ende 2015 angestrebt wird. Außerdem muss dazu eine Dezentralisierung per Verfassungsreform durchgesetzt werden. (siehe: „Verfassungsreform“ weiter unten)

Abzug ausländischer Kämpfer: Alle ausländischen Kämpfer, Söldner und Waffen sollen unter Aufsicht der OSZE abgezogen werden. Alle „illegalen Gruppen“ werden entwaffnet.

Verfassungsreform: Bis Ende 2015 muss eine neue ukrainische Verfassung in Kraft treten, die eine Dezentralisierung des Landes ermöglicht und mit Vertretern der Separatistengebieten abgestimmt ist. Außerdem soll ein Gesetz einen Sonderstatus der Gebiete in der Ostukraine regeln.

Viele Soldaten glauben nicht an militärische Lösung

Eine militärische Lösung für diesen Krieg gebe es nicht, sagen viele Soldaten. „Krieg bedeutet, zu gewinnen oder zu verlieren. Was jetzt hier passiert, wissen wir nicht.“ Beide Seiten profitierten von der Ungewissheit des schwelenden Krieges: „Russland kann so den Druck auf uns aufrechterhalten. Und unser Präsident hat einen Vorwand, um die Reformen nicht voranzubringen“, sagt einer.

Was tun? Viele Offiziere vertreten die Ansicht, dass die Ukraine das besetzte Gebiet im Osten – eine Fläche so groß wie Schleswig-Holstein – abriegeln und ummauern sollte. Statt zu kämpfen, solle sie sich um sich selbst kümmern. So lange, bis der im Rest des Landes erreichte Lebensstandard für die Einwohner der umkämpften Enklave so attraktiv würde, dass sie von alleine wieder zurück wollten. Doch eine Abriegelung wollen nur sieben Prozent der Bevölkerung. Die meisten Ukrainer, 73 Prozent, wollen nach wie vor, dass der Donbass Teil der Ukraine bleibt.

UN-Angaben zu Toten in der Ostukraine

Die Zahl der zivilen Opfer im Ostukraine-Konflikt zwischen prorussischen Separatisten und Regierungstruppen ist nach UN-Angaben im Sommer 2016 stark gestiegen. Im Juli seien acht Menschen getötet und 65 Menschen verletzt worden, teilte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte mit. Im Juni hätten zwölf Menschen ihr Leben verloren und 57 Menschen Verletzungen davongetragen.

Die Opferzahlen für Juni seien die höchsten seit August 2015 und fast doppelt so hoch wie die Zahlen im Mai 2016. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Seid Ra’ad al-Hussein, forderte die Konfliktparteien auf, Zivilisten zu schonen und die angespannte Lage nicht weiter eskalieren zu lassen.

Seit Beginn der Kämpfe im April 2014 zählten die UN rund 31.700 Opfer unter Zivilisten, Freischärlern und regulären Truppen. Mehr als 9550 von ihnen kamen ums Leben, mehr als 22.100 trugen Verletzungen davon. Die Dunkelziffer könnte laut den UN wesentlich höher liegen.

Einheiten beider Seiten in Wohngebieten

Die OSZE berichtet, dass immer mehr Waffen wieder direkt an der Front eingesetzt würden. An der 500 Kilometer langen Linie sind die Seiten sehr dicht beieinander. Oftmals nur 100 Meter oder etwas mehr, so dass selbst leichter Infanteriebeschuss substanziellen Schaden verursacht. Nach wie vor haben beide Kriegsparteien ihre Einheiten oft in Wohngebieten stationiert. Internationale Beobachter gehen von rund 100.000 Einwohnern aus, die dicht entlang der Frontlinie leben. Oftmals sind es ältere Frauen und Rentner, die keine Mittel für ein neues Zuhause haben, oder auf ihr Anwesen aufpassen wollen. In vielen aufgegebenen Häusern sitzen nun Soldaten.

Wie soll der Konflikt gelöst werden? Weder Russland noch die USA sind offenbar willens, durch Druck und Sanktionsandrohung ihre jeweilige Seite zu einem Waffenabzug und damit zurück zum Minsker Prozess zu bewegen.


Ukrainische Soldaten bereiten ihr Essen in einem Dorf bei Mariupol zu.
Keine Hilfen für lokale Bevölkerung

Wie stellen sich die Ukrainer Schritte zu einer Lösung vor? Nach einer Umfrage der „Ilko Kucheriv-Stiftung für Demokratische Initiativen“ geben 41 Prozent der Ukrainer an, dass Russland durch Sanktionen und andere Druckmittel gezwungen werden sollte, jegliche Intervention im Donbass einzustellen. 28 Prozent halten die Wiedereinführung normaler Lebensverhältnisse in den ukrainisch kontrollierten Gebieten im Donbass für einen Weg zum Frieden.

Die lokale Bevölkerung fühlt sich nicht nur von den örtlichen Behörden und von der Regierung in Kiew vernachlässigt, sie ist es objektiv auch. Es gibt für sie keine staatlich organisierte psychologische Betreuung, keine praktischen Lebenshilfen, seit über zwei Jahren ist sie sogar von den ukrainischen Medien abgeschnitten.


Ein Soldat steht in einem beschädigten Gebäude in Marjinka
20 Prozent der Ukrainer fordern eine Einstellung aller finanziellen Überweisungen, wie Renten und Gehälter, in die besetzten Gebiete. Nur 15 Prozent glauben an einen Frieden durch eine ukrainische Offensive und Rückeroberung. Die Zahl der Befürworter der militärischen Lösung ist in den vergangenen zwei Jahren deutlich gefallen. 47 Prozent glauben, dass die Staatsführung für den Frieden Kompromisse eingehen sollte. 23 Prozent glauben, dass es Frieden um jeden Preis geben sollte.

Mariupol: Zwischen den Fronten

Im Stich gelassen in der eigenen Heimat: In der Ukraine machen viele Menschen gerade diese Erfahrung. Der Konflikt um den Osten des Landes scheint die Politiker in Kiew zu überfordern. Seit 2015 gilt eine Waffenruhe, aber viele Probleme bleiben.

Politologe: Ukraine braucht neue geopolitische Allianzen

Relative Ruhe oder Ruhe vor dem Sturm? „Dies ist keine Zeit für die Ukraine, zu entspannen, trotz aller Müdigkeit“, sagt der ukrainische Politologe Vladimir Gorbulin. In der Wochenzeitschrift „Dzerkalo Tyzhnia“ warnte er, dass die russische Bedrohung sich nicht einfach in Luft auflösen würde. Im Falle einer russischen Großoffensive wären die Überlebenschancen für die Ukraine minimal.

Das Risiko eines großen Krieges steige, wenn Russland seinen Nachbarn nicht mit anderen Mitteln schwächen und den Staat zu Fall bringen könne. Kiew müsse jederzeit damit rechnen, dass die internationale Unterstützung wegfalle, dass die Sanktionen gegen Russland aufgehoben würden. Die Ukrainer müssten daher neue geopolitische Allianzen schaffen, zum Beispiel mit Polen, dem Baltikum, Rumänien oder Skandinavien, so Politologe Gorbulin.

von

Günter Schwarz – 04.08.2016