Jesper Juul ist eine Instanz in Erziehungs- und Familienfragen. Der Däne spricht über die Familie in einer globalisierten Welt, über die Bedürfnisse von Kindern und wie schwer es ist, richtig zu lieben. Das ist seine Botschaft.

Gespräche strengen Jesper Juul an. Nach einer schweren Erkrankung kann der dänische Familientherapeut kaum noch sprechen. Seine Konsultationen und Supervisionen bietet er seitdem per E-Mail und Web-Chat an. Auch dieses Interview musste schriftlich geführt werden. Doch auch ohne Stimme ist Juul eine Instanz in Erziehungsfragen. Bücher wie „Die kompetente Familie“, „Nein aus Liebe“ oder „Leitwölfe sein“ sind Bestseller. Wie sieht er die Zukunft der Familie?

Herr Juul, die Welt, in der wir leben, verändert sich in rasantem Tempo. Alles wird hinterfragt, nichts scheint mehr gewiss. Wir leben und arbeiten vernetzter, mobiler. Kann die Familie in diesem Umfeld überleben?

Jesper Juul: Wenn Sie mit „Familie“ die Konstellation aus Mutter, Vater und Kindern meinen, dann bin ich mir sicher, dass sie überleben wird. Aber möglicherweise gerät sie für ein paar Jahrzehnte in eine Minderheitenposition, da es inzwischen auch zunehmend andere Familienkonstellationen gibt, die unsere Gesellschaft mit neuen Erfahrungen und Perspektiven bereichern. Sie wurden in der Vergangenheit oft diskreditiert, weil die moralischen Sichtweisen und Prinzipien der klassischen Kernfamilie lange Zeit geprägt haben.

Was genau meinen Sie?

Unterhalten Sie sich nur mal mit Leuten, die bewusst kinderlos geblieben sind. Ihnen werden oft emotionale Defizite unterstellt. Aggressionen schlagen auch Eltern entgegen, die sich scheiden lassen oder getrennt voneinander leben, homosexuelle Paare, die ein Kind adoptieren wollen, oder alleinstehenden Frauen, die sich ihren Kinderwunsch mit einem Samenspender erfüllen.

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Ich denke aber, wir sollten uns glücklich schätzen, dass wir heutzutage so viele Möglichkeiten haben, unser Leben zu gestalten. Wir beobachten in unserer Gesellschaft viele unkluge und lebensfeindliche Phänomene. Die Vielfalt unserer Familien gehört nicht dazu. Wenn wir „Familie“ als Überbegriff für die liebevolle Beziehung zwischen Eltern und Kindern, entfernteren Verwandten und Geschwistern definieren, wird die Familie für immer existieren. Davon bin ich überzeugt.

Umfragen unter Jugendlichen ergeben regelmäßig, dass die Familie nach wie vor ein erstrebenswertes Lebensmodell ist. Welche Sehnsüchte verbinden die Menschen damit?

Das beruht teilweise auf Tradition und teilweise auf dem tiefen Bedürfnis, Menschen zu lieben und für ihr Leben von Wert zu sein. Wir vergessen oft, dass unsere Sehnsucht, Kinder zu haben, aus dem Wunsch resultiert, unsere Liebe dahin zu geben, wo sie wirklich etwas bewirken kann.

Was kann Familie in einer globalisierten Welt leisten?

Im Verlauf des letzten Jahrzehnts haben uns unsere Regierungen weismachen wollen, dass die Globalisierung vor allem unerbittlichen Wettbewerb erfordert und keine Zeit und keinen Raum lässt für „unproduktive“ Aktivitäten. Aber weder die Politik noch die Wirtschaft, noch die Wissenschaft hat begriffen, dass diese Form der Gesellschaft uns alle krank macht und daher sowohl unproduktiv als auch teuer ist. Eine Neuerfindung der Familie ist der einzige Weg, die menschliche Entwicklung in einer Gesellschaft zu gewährleisten, die sich mehr und mehr von unseren Bedürfnissen wegentwickelt.

Trotzdem scheint es sehr schwer zu sein, Familie zu leben. Immer mehr Beziehungen scheitern, immer mehr Kinder wachsen nicht mit beiden Elternteilen auf. Warum gelingt dieses wichtigste aller Lebensprojekte nur noch so selten? Warum verlieren sich so viele Paare über dieser Aufgabe?

Das ist eine riesige Herausforderung, auf die ich keine allgemeingültige Antwort habe. Wir brauchen eine neue Bedeutungsebene für die Beziehung zwischen Erwachsenen, die einander lieben und zusammenleben wollen. Die traditionellen, auf sozialen und moralischen Standards und Notwendigkeiten ausgerichteten Muster greifen nicht mehr. Wir wissen heute wenig darüber, wie unsere Eltern und Großeltern ihre Beziehungen auf emotionaler und existenzieller Ebene geführt haben. Heute ist die Ehe keine soziale oder moralische Notwendigkeit mehr. Annähernd 50 Prozent aller Paare lassen sich scheiden.

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Eine rein auf Liebe basierende Beziehung angemessen zu pflegen scheint also sehr schwierig zu sein. Auch die Elternschaft wird oft als teuer und kräftezehrend wahrgenommen. Viele junge Leute versuchen deshalb, ihrem Leben auf andere Art und Weise einen Sinn zu geben – zumal es die Gesellschaft noch nicht geschafft hat, eine gesunde Work-Life-Balance zu gewährleisten. Ich bin aber sicher, dass sich Menschen nach wie vor verlieben werden und die Vorzüge eines erfüllten Liebes- und aufregenden Sexlebens eine wichtige Antriebsfeder bleiben.

Die serielle Monogamie als vorherrschendes Lebensmodell also?

Seit der sexuellen Revolution nehmen wir uns zunehmend die Freiheit, uns mehr als einmal zu verlieben. Körperliche Anziehungskraft ist ein Geschenk, keine Sünde. Wir diskutieren die verschiedensten Sexualpraktiken auf dem offenen Markt. Manchmal wird es dabei ziemlich technisch, aber ich denke, dass wir die Balance zwischen Gefühlen und Sex in einer nicht allzu fernen Zukunft besser hinkriegen. Ich bin sicher, dass wir bald reif sind für den nächsten Schritt: zu lernen, wie man einen Menschen liebt, mit dem man sowohl Kinder hat als auch Sex.

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Um das zu erreichen, müssen wir der Partnerschaft und der Elternschaft eine neue Bedeutung geben – ohne den moralischen Überbau der Vergangenheit. Sich zu verlieben und Sex zu haben ist leicht – das lehrt uns die Natur. Die Fähigkeit zu lieben nicht. Als Beobachter und Psychotherapeut hoffe ich, dass wir es schaffen, das enorme Potenzial zu entdecken, das eine ernsthafte, lang anhaltende, liebesbasierte Beziehung zwischen Eltern und Kindern für die persönliche und spirituelle Entwicklung hat.

Was raten Sie als Familientherapeut Eltern, die nicht mehr miteinander leben wollen?

Mein deutscher Kollege Mathias Voelchert hat das Buch „Trennung in Liebe“ geschrieben, das Paaren sehr detailliert aufzeigt, wie man auf für Eltern und Kinder konstruktive Art auseinandergehen kann. Die knappe Botschaft: Erinnert euch daran, warum ihr mal geheiratet und Kinder bekommen habt – und orientiert euch bei der Scheidung an diesen Gefühlen, nicht an dem Hass und der Frustration, die später kamen.

Was braucht ein Kind, um glücklich und geborgen aufzuwachsen – möglicherweise auch außerhalb der Kernfamilie?

Alle Erfahrung lehrt uns, dass Kinder mindestens eine enge Beziehung zu einem empathischen, zugewandten, flexiblen Erwachsenen brauchen. Das kann entweder ein biologischer Elternteil sein oder ein anderer Erwachsener, der zu ernsthafter, persönlicher Hingabe bereit ist. Die Idee des israelischen Kibbuz etwa, in dem alle Erwachsenen als „Eltern“ für die Kinder fungieren, hat aus Kindersicht nie funktioniert – im Gegenteil. Umgekehrt hat sich das Prinzip des Kinderdorfs, in dem sich eine feste Kinderdorfmutter um eine Gruppe von Kindern kümmert, in vielen Ländern sehr bewährt. Und auch Stiefeltern – ich sage lieber „Bonuseltern“ – spielen oft eine sehr bedeutsame Rolle.

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Kinder, die ihre Eltern verloren haben oder bei denen der Kontakt zu einem Elternteil abgerissen ist, leben mit einer schmerzhaften Leere. Wenn Ersatzeltern in der Lage sind, diesen Schmerz zu sehen und ihre Ambitionen zu steuern, diese Leere zu füllen, können sie lebensrettend für Kinder sein. Kinder müssen gesehen, gehört und von zugewandten Erwachsenen ernst genommen werden. Dann können sie mit einem gesunden Selbstwertgefühl und einer starken sozialen Intelligenz aufwachsen.

In der Vergangenheit war die Erziehung immer sehr stark mutterzentriert. Doch mit dieser Rollenzuweisung wollen sich die wenigsten jungen Frauen und Männer noch abfinden. Wie verändern sich Familien durch die Demokratisierung von Erziehung?

Es ist richtig, dass die Mütter in der Vergangenheit den aktiveren Part in der Erziehung gespielt haben. Das heißt aber nicht, dass die Väter keinen Einfluss haben – allein schon durch ihre Art. Wenn Väter sich jetzt stärker einbringen, ist das eine klare Win-win-Situation für alle Seiten – solange beide Eltern bereit sind, den Erziehungsansatz des anderen zu akzeptieren und wertzuschätzen.

Sie sagen, Eltern müssen Leitwölfe sein. Funktionieren wir noch immer nach dem Prinzip des Rudels?

Zu einem gewissen Grad ja. Alle Kinder brauchen Rollenvorbilder, um als soziale Wesen heranzureifen. Der entscheidende Unterschied zum Wolfsrudel besteht allerdings darin, dass Menschenkinder einen eigenen Willen haben. Wenn sie in der Erziehung erfolgreich sein wollen, müssen Eltern lernen, ihn in ihr Handeln einzubeziehen.

Gibt es in Sachen Erziehung ewige Gewissheiten? Oder brauchen Kinder heute und in Zukunft ganz andere Kompetenzen als früher einmal?

Wenn wir uns anschauen, was Kinder heute mitbringen müssen, um ihr Leben, ihre Ausbildung und ihre Arbeit zu bewältigen, ist das mehr als noch vor zwei Generationen. Sie brauchen ein gut ausgebildetes, gesundes Selbstwertgefühl, um gegen Manipulation, Gehirnwäsche und Grenzverletzungen gerüstet zu sein, ihre eigenen Ziele zu verfolgen und die Bedürfnisse der anderen zu berücksichtigen.

Was bedeutet das für den Umgang miteinander und die Kommunikation innerhalb der Familie?

Das Wichtigste und Dringendste ist, dass Eltern und Lehrer die Kunst des Zuhörens lernen. Sie müssen Kinder lehren zu denken – nicht, was sie denken sollen.

Die Digitalisierung hat unser Kommunikationsverhalten jetzt schon dramatisch verändert. Eltern wie Kinder sind im Prinzip permanent online. Wo liegen dabei für Sie die Risiken – und wo die Chancen?

Der derzeitige Wunsch, permanent online zu sein, droht all unsere engen Beziehungen zu anderen Erwachsenen und zu unseren Kindern zu zerstören. Es geht dabei nicht um die ideologische Frage, ob wir für oder gegen Smartphones, Tablets und so weiter sind. Sie sind nun einmal da. Es sind Instrumente zum Lernen, zur Kommunikation und zur Unterhaltung. Jetzt müssen wir lernen, damit so umzugehen, dass sie unser Leben bereichern. Familien, Schulen, Kindergärten und Freundeskreise müssen sich Regeln aufstellen, wie wir ihren Gebrauch reglementieren.

Viele Kinder benutzen elektronische Geräte vor allem, um sich damit die Langeweile zu vertreiben. Sie hingegen sind ein vehementer Verfechter der Langeweile. Was ist so gut daran?

Der größte Nutzen der Langeweile besteht darin, dass sie Räume für Kreativität öffnet. Eltern müssen lernen, darauf zu vertrauen – und Kinder müssen lernen, auch einmal 15 bis 20 Minuten durchzustehen, ohne nach Zerstreuung zu suchen.

Braucht eine Familie analoge Inseln, um sich nicht zu verlieren?

Unbedingt. Jede Familie braucht dafür ein paar Stunden am Tag.

Zeit scheint überhaupt das wesentliche Gut zu sein, an dem es Familien mangelt. Ist es möglich, knappe Zeit auch in der Familie effizient zu nutzen, Stichwort Quality Time?

Das Konzept der Quality Time wurde von Eltern entwickelt, die ein schlechtes Gewissen haben, und von Fachleuten, die Probleme lieber kompensieren, als sie zu lösen. Was Paare und Kinder wirklich brauchen, ist unstrukturierte Zeit ohne Unterhaltungsangebot von außen. Das kann ein Monopoly-Spiel sein, ein Spaziergang in der Natur, gemeinsames Kochen oder einfach nur Schweigen und Händchenhalten.

Das geht – wenn wir entscheiden, dass es wichtig ist, und aufhören, uns als Opfer der Außenwelt zu sehen. Mit anderen Worten: Es erfordert, dass jeder von uns Verantwortung für unsere Lebensqualität übernimmt, anstatt zu warten, bis wir zum ersten oder zweiten Mal geschieden werden.

von

Günter Schwarz – 05.09.2016