Selten sind in der Vergangenheit so viele Menschen auf die Straße gegangen, um für oder gegen etwas zu demonstrieren. Sieben Städte, zehntausende Teilnehmer – die Proteste gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA erreichen an diesem Wochenende einen neuen Höhepunkt. Mehr als 30 Organisationen haben dazu aufgerufen. Der Protest gegen die geplanten Freihandelsabkommen mobilisiert die Massen. Hunderttausende werden heute zu Demos in sieben deutschen Städten erwartet. Längst geht es weniger um Fakten als um Botschaften. Befürworter und Kritiker haben sich festgefahren.

Berlin, Leipzig, Hamburg, Köln, Frankfurt am Main, Stuttgart und München: In diesen sieben Städten wird heute ab zwölf Uhr gegen die geplanten Freihandelsabkommen TTIP mit den USA und CETA mit Kanada protestiert. Ein Bündnis von 30 Organisationen hat dazu aufgerufen, Hunderttausende Teilnehmer werden erwartet.

Das sind Zahlen, von denen die Organisatoren der jährlich stattfindenden Ostermärsche nur träumen können. Für den Frieden durch Innenstädte zu marschieren, halten die meisten Menschen wohl nicht mehr für nötig – oder nicht für effektiv. Wie sollte man damit zum Beispiel die Kriegsparteien in Syrien beeindrucken? Sorge um Naturschutz und Gerechtigkeit, Skepsis gegenüber den geheimen Verhandlungen und am Ende die Befürchtung, dass Unternehmen ganze Regierungen austricksen – es gibt viele Gründe, warum Menschen gegen TTIP und CETA demonstrieren.

Anders bei TTIP und CETA, schließlich sind Demonstranten auch Wähler. Wie Hühnchen desinfiziert werden, dafür haben sich früher zwar kaum Verbraucher interessiert. Jetzt aber steht das Chlorhuhn beispielhaft für alle Sorgen und Ängste, die mit den Freihandelsabkommen verbunden werden. Während sich die Befürworter der Abkommen mehr Handel, mehr Jobs und mehr Wachstum versprechen, sehen die Gegner das Bedrohungsszenario.

Von Umweltstandards bis zur Demokratie

Ein breites Bündnis steht hinter dem Protest – Wohlfahrts-, Sozial- und Umweltverbände, Kirchengruppen, entwicklungspolitische Organisationen, Gewerkschaften und Parteien. So breit gefächert sind auch ihre Kritikpunkte. Sozial- und Umweltstandards seien in Gefahr, Arbeitnehmerrechte, Verbraucherschutz, Rechtsstaatsprinzipen, die Demokratie sogar.

Wenn öffentliche Ausschreibungen vermehrt für ausländische Investoren geöffnet werden, könnten nach Ansicht der TTIP- und CETA-Gegner soziale und ökologische Standards auf der Strecke bleiben. Investoren sollen zukünftig gegen Staaten klagen können, wenn sie sich durch Regulierungen oder Gesetze benachteiligt sehen. Entscheiden sollen dann aber keine nationalen Gerichte, sondern Schiedsgerichte. Und dass die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattgefunden haben, hat der Akzeptanz der Abkommen von Beginn an geschadet.

TTIP ist auch eine Propagandaschlacht. Beide Seiten, Gegner wie Befürworter, bombardieren Journalisten geradezu mit Pressemitteilungen. Für die Handelsabkommen sind naturgemäß vor allem die Vertreter der deutschen Wirtschaft und der Konzerne. Ihr Argument: Freihandel und Export sichern Wettbewerbsfähigkeit und damit Arbeitsplätze. Die Vorstandsvorsitzenden der deutschen Automobilkonzerne sprechen in einer gemeinsamen Erklärung, treffend für die eigene Branche, von einem „Motor für den Wirtschaftsstandort Deutschland“. Und der Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Ulrich Grillo, versucht zu beruhigen: „Ich kann keine Gefahr für unsere Standards oder gar die gesetzgeberische Souveränität erkennen.“ EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström erklärt kurz vor den Demos in der „Bild“-Zeitung, in der Debatte gebe es „viele Missverständnisse, Schauermärchen und Lügen“. Die Verhandlungen seien nicht undurchsichtig. „Unsere Demokratie wird selbstverständlich nicht ausgehöhlt, wie manche zu glauben scheinen.“

Entscheidende Phase erreicht

Niemand kann in die Zukunft blicken und sicher voraussagen, welche Folgen TTIP und CETA tatsächlich haben würden. Sicher ist aber, dass jetzt die entscheidende Phase erreicht ist. CETA ist bereits ausgehandelt, im Oktober soll es unterzeichnet werden. Zuvor muss es noch durch die Parlamente aller EU-Mitgliedsstaaten. Mit seinen Plänen, die Parlamente außen vor zu lassen, hatte sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nicht durchsetzen können. Auch eine Folge des steigenden öffentlichen Drucks.

Der Nürnberger Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Matthias Fifka konstatiert Kritik von links wie von rechts: „Kritik aus dem linken Lager porträtiert TTIP als einen weiteren Auswuchs eines grenzenlosen Kapitalismus, durch den sich große Konzerne auf Kosten des ‚kleinen Mannes‘ bereichern. Die Kritik von rechts sieht darin einen Verlust nationaler Souveränität und hart erkämpfter Werte und Traditionen, etwa die Bedrohung der deutschen Bauern in ihrer Rolle als Hüter einer Kulturlandschaft.“

Der Widerstand der Bevölkerung hat zahlreiche Politiker zum Umdenken bewegt. Frankreichs Präsident François Hollande würde das Projekt mangels Akzeptanz in der Bevölkerung und mit Blick auf die bevorstehende Präsidentenwahl lieber heute als morgen beerdigen, auch in Österreich werden eher die Nachteile gesehen. Selbst Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) erklärte TTIP bereits für faktisch gescheitert, an CETA will er aber festhalten. Am Montag will er sich auf einem SPD-Parteikonvent, eines kleinen Parteitages in Wolfsburg, das Okay der Parteibasis holen. Nein zu TTIP, Ja zu CETA – für die Gegner ist Gabriels Vorgehen eine Strategie, TTIP quasi durch die Hintertür einzuführen. US-amerikanische Konzerne könnten dann über Tochterunternehmen in Kanada auch ohne TTIP die Vorzüge eines neoliberal geprägten Freihandels für sich beanspruchen.

Die Politik hat Fehler gemacht. In Brüssel und den Hauptstädten der EU-Mitglieder hat man das Informationsbedürfnis der Bevölkerung sicher unterschätzt – im stillen Kämmerlein wollte man beide Freihandelsabkommen aushandeln und in Kraft setzen. Das ist gründlich schief gegangen. Europaweiter Protest ist die Quittung. TTIP erscheint bereits jetzt tot, die Frage ist nur, ob es durch CETA wiederbelebt werden kann. Es beginnen die entscheidenden Wochen.

von

Günter Schwarz – 17.09.2016