Als Yahya Hassan 2013 seinen ersten Gedichtband vorlegte, wurde der muslimische Migrantensohn in Dänemark sogleich zum Star der dänischen Literaturszene. Er hatte es gewagt, die Doppelmoral der Generation seiner Eltern zu attackieren.

Yahya Hassan, Däne mit palästinensischen Eltern, debütierte 2013 im Alter von 18 Jahren mit einem selbstbewusst „“Yahya Hassan“ betitelten Gedichtband – der Verlag hätte den Titel „Ghettogedichte“ vorgezogen. Hassan rechnet lyrisch mit seiner aus dem Nahen Osten eingewanderten Vätergeneration und ihrer mangelnden Integrationsbereitschaft ab. Das Buch verkaufte sich 120 000 Mal – üblicherweise wird Junglyrikern eine Erstauflage von 400 Exemplaren zugestanden.

Der Vatermord brachte Hassan aber kein Glück. Am vergangenen Freitag musste er sich vor einem Gericht in Århus verantworten, weil er am 20. März, als er eine Pizza kaufen wollte und sich bedroht fühlte, Schüsse auf ein 17-jähriges Mitglied der feindlichen islamistischen Rockerbande „Black Army“ abgegeben hatte. Ein Schuss traf den Mann in den Fuß, ein zweiter streifte den Oberschenkel. In einem entscheidenden Punkt folgte das Urteil der Sicht der Verteidigung, die geltend machte, dass die Schüsse nicht abgefeuert worden seien, um den 17-Jährigen zu verletzen, sondern dass Hassan ihn vielmehr habe abschrecken wollen. Dennoch wurde Hassan von dem Gericht zu 21 Monaten Gefängnis verurteilt.

Sensationelles Debüt

Hassan wuchs in einer Außenbezirk von Århus auf, deren Einwohnerschaft 2008 zu 86 Prozent aus Einwanderern aus nichtwestlichen Ländern bestand. Gewalt und Angst prägten seine Kindheit. Als 13-jähriger Kleinkrimineller begann er eine Heimkarriere. Heim folgte auf Heim, bis ihm eine Erzieherin die Welt der Literatur erschloss. Die Lektüre von Karl Ove Knausgårds Roman „Mein Kampf“ machte ihm bewusst, dass auch in seiner Ghetto-Familie vieles nicht in Ordnung war, und das wollte er laut und deutlich kundtun. Anzumerken bleibt, dass die 38-jährige, literaturbegeisterte Erzieherin es nicht bei der Theorie beließ, sondern ein Verhältnis mit ihrem 16-jährigen Zögling einging und darüber erst noch einen Roman schrieb – unterdessen wurde sie zu einer bedingten Haftstrafe verurteilt.

„Wir, die wir die Ausbildung schmissen, herum gammelten, kriminell wurden, wurden nicht vom System im Stich gelassen, sondern von unseren Eltern.“

Yahya Hassan jedoch konnte sein Buch in Dänemarks großem Traditionsverlag Gyldendal veröffentlichen. Zum Verkaufsstart präsentierte die Zeitung „Politiken“ den Debütanten in einem Interview, das die Ghetto-Community entsetzte. „Wir, die wir die Ausbildung schmissen, herum gammelten, kriminell wurden – wir wurden nicht vom System im Stich gelassen, sondern von unseren Eltern“, stellte Hassan mutig fest und geißelte die Doppelmoral der Väter, die „tagaus, tagein den Koran rezitieren, jeden Tag die Moschee besuchen und sich als Heilige aufspielen, denen es aber keine Gewissensbisse bereitet, zu lügen und zu betrügen, um eine Frühpensionierung zu erhalten“.

Jetzt wurde Hassan zum Gejagten. Bald wurde er in Københavns Hauptbahnhof von einem Islamisten zusammengeschlagen. Er sei vom Glauben abgefallen und müsse sterben, schrie der Mann, der später zu einer bedingten Haftstrafe verurteilt wurde. Der Streit mit der „Black Army“ eskalierte.

Einer Gratiszeitung sagte Hassan, sein Gedichtband habe zum ersten Mal einen Bandenkrieg ausgelöst, der sich nicht um „Narkotika und Weiber“ drehe, sondern um die Meinungsfreiheit. Unbekannte verübten einen Brandanschlag im Treppenhaus der Hassans. Ein anderes Mal stellte sich dem Dichter ein Auto in den Weg, dem mit Säbeln und Keulen bewaffnete Männer entstiegen. Hassan flüchtete auf die Fahrbahn, wo er von einem Fahrzeug erfasst wurde und er sich den Arm brach. Sogar in Ramallah sei er auf offener Strasse überfallen worden, erzählte er der Zeitung „Berlingske Tidende“. Ein Auto habe jäh gestoppt. „Bist du Yahya aus Dänemark?“, habe eine Stimme gerufen. Dann sei der Mann ausgestiegen, habe auf seinen Kopf eingeschlagen und als „Ungläubigen“ beschimpft.

Hassan bekam Polizeischutz, auf den er im Mai 2015 aber verzichtete. Zu einem Auftritt in Stockholm wurde er von vier Leibwächtern begleitet. In Norwegen trat er in einer kugelsicheren Weste auf. Kurz bevor er in Odenses berüchtigtem Vorort Vollsmose eine Lesung halten sollte, wurde dort ein prominenter Abtrünniger, der Ex-Imam Ahmed Akkari, von Steine werfenden Halbwüchsigen vertrieben. Akkari, ein Strippenzieher im Karikaturenstreit, hatte sich inzwischen zur freien Meinungsäußerung bekannt.

Kampf um das freie Wort

Das freie Wort ist ein zentraler Begriff des dänischen Selbstverständnisses. Nach Akkaris Vertreibung unternahm der Staat alles, um Hassans Lesung in dem Vorort zu sicherzustellen. Ein großes Aufgebot von Polizisten in Kampfmontur stand zum Schutz des Dichters bereit. Schon am Vortag war das Gelände abgesperrt und von Bombenhunden durchsucht worden. Sogar eine Flugverbotszone wurde über Vollsmose eingerichtet. Die Regierung markierte Präsenz durch eine Ministerin. 51 Journalisten waren akkreditiert.

Yahya Hassan besitzt einen guten dänischen Humor,

schließlich verging ihm aber das Lachen.

Hassan trat sodann auch als Weihnachtsmann am Weihnachtsbingo bei der pointiert fremdenfeindlichen Dansk Folkeparti (Dänische Volkspartei) auf. Die bekannteste Politikerin der Partei, Kjærsgaard, meinte indes: „Er ist doch nur ein krimineller Einwandererbub mit Größenwahn“, seine Gedichte seien „grässlich“. Auf Facebook veröffentlichte der „Einwandererbub“ dann ein Selfie mit der selig lächelnden 69-jährigen Kjærsgaard. Als Heimkind habe er eine Zeitlang eine externe Schule besucht, erzählte Hassan im erwähnten „Politiken“-Interview. Die dänischen Mittelstandseltern hätten aber dafür gesorgt, dass ihre Sprösslinge sich von ihm fernhielten. Zu einem Kindergeburtstag oder einem ähnlichen Anlass sei er nie eingeladen worden.

Hassan besitzt einen guten dänischen Humor, schließlich verging ihm aber das Lachen. Vor Gericht berichtete sein Verleger von einem zunehmend verängstigten, paranoiden Menschen, der um sein Leben fürchte. Er habe ihm geraten, erneut Polizeischutz zu beantragen. Hassan nahm aber sein Schicksal in die eigenen Hände. Auf Facebook posierte er mit Pfeil und Bogen und mit Patronen. Und er schrieb, er sei bereit zu töten, um sich zu verteidigen – und nur drei Tage später, am 20. März, kam es zu jenem verhängnisvollen Pizzeria-Besuch.

von

Günter Schwarz – 22.09.2016