Europa regt sich abgesehen von einigen unverbesserlichen Rechtspopulisten in großen Teilen der Bevölkerung über die Wahl von Donald Trump auf. Das ist ja alles schön und richtig, denn so wie Trump sich bisher in der Öffentlichkeit gezeigt hat, muss man bei ihm mit allem rechnen und das einzige, worauf man sich verlassen kann, ist, dass man sich auf nichts verlassen kann. Aber in Europa haben wir auch so einen „Herrn“, der uns einiges „Ungemach“ bereitet, und so wäre es zunächst einmal gescheiter, in Richtung Türkei zu schauen.

Demokratie ist keine „Schönwetterveranstaltung“. Sie war es nie und ist es in diesen Tagen erst recht nicht, denn eine funktionierende Demokratie braucht mündige und mitdenkende Bürger, die sich ihrer persönlichen Verantwortung gegenüber der gesamten Gesellschaft bewusst sind. Sich in Europa über die demokratische Wahl eines Mannes auf der anderen Seite des Atlantiks zu ­enervieren, posten, empören, entsetzen und lustig zu machen, ist einfach und billig. Es fällt offensichtlich viel schwerer, sich in Deutschland, Dänemark und im gesamten Europa indessen gegen die Machtergreifung des neuen Sultans am Bosporus zu wehren.

Dabei sind nicht die USA entscheidend, sondern die Türkei. Erdoğan ist ein Mann des Volkes, was aber eben nicht gleichzusetzen ist mit „einem Mann der Demokratie“. Vor lauter dummem Gequatsche über „politischen Klasse“ oder „Das Volk hat immer recht“ gingen in der öffentlichen Debatte die konstitutiven Elemente der Demokratie völlig verloren.

Mekka und Kopftuch

Die Rolle rückwärts in Richtung Mekka und Kopftuch, die Verhaftung von Geist und Journalismus in Verbindung mit florierenden Shopping­centern ist die neue Art des Islamismus „à la Turque“. Erdoğan ist trotz konservativer Rhetorik ein äußerst moderner Herrscher. Sein Markt-Sultanat, bestehend aus Privatisierung, religiöser Fundamentalisierung, ungebremster Überwachung, Einkerkerung aller Oppositionellen, begann in Anlehnung an Putins „gelenkte Demokratie“, an Merkels „marktkonforme Demokratie“ und an Obamas „überwachte Demokratie“.

Tragisch an all diesen Vorgängen ist, dass sich viele Kritiker und Kritikerinnen innerhalb Europas lieber selber zerfleischen und die eigenen Pöstchen und Positionen in staatskapitalistischen Betrieben sichern, als den unabhängigen und warnenden Stimmen zuzuhören und sie zu stärken.

„Menschenrechte sind voraussetzungslos“

Vor Kurzem wurde Carolin Emcke mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels aus­gezeichnet und sie redete eindrücklich: „Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird.“ Oder anders gesagt: „Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut.“

Ja. Genau! Deshalb sind jetzt Taten angesagt. Jede Journalistin, jeder Schriftsteller, jede Universitätsprofessorin, jeder Chefredaktor in Europa ist aufgefordert, über die Türkei nicht nur zu schreiben, sondern darüber nachzudenken, was passiert, wenn weiterhin geschwiegen wird. Über die Verhaftungen, über die Ermächtigungsgesetze Erdoğans, über die Stimmung auch der deutschen Türken, die – gemäß offiziellen Berichten – tatsächlich zu 90 Prozent für Erdoğan gewählt haben.

Statt ­flächendeckend über die AfD zu berichten, die neusten Fauxpas von Rassisten, die sich im Fahrwasser der Zeit wähnen, zu tweeten, zu posten und zu kommentieren, muss die Realpolitik ins Zentrum rücken. Erdoğan ist nicht einfach die Türkei und weit weg von uns. Die Opposition gegen Erdoğans Machtergreifung passiert auch nicht einfach mit einem Hashtag.

Grenzen setzen

Erdoğan ist unser Nachbar, der schon längst damit begonnen hat, unser Haus zu besetzen. Es ist Zeit, ihm Grenzen zu setzen. Mit reden, schreiben, helfen, tun, mit unserem Druck auf unsere eigenen Regierungen. Denn nur wenn wir der Demokratie eine Stimme geben, wird sie von der Stummheit der Gewalt nicht plattgemacht. Der derzeitige Besuch des Bundesaußenministers Steinmeier in der Türkei, der den Meldungen zufolge kein Blatt vor dem Mund nimmt und dem „Sultan“ Erdoğan wie auch dem Regierungschef Yildirim klar die Meinung sagt, kann nur begrüßt werden, denn die Politik „vorsichtiger Rücksichtnahme“ hat sich der Türkei gegenüber als völlig nutzlos erwiesen. Auch kann die letzte „Aspekte“-Sendung im ZDF uns dies ein Vorbild sein, in der Can Dündar, der ehemalige Chefredaktor von Cumhuriyet, die Moderation übernommen hatte, denn reden ist schließlich auch handeln.

von

Günter Schwarz  – 15.11.2016