Der Islam unterwandert Deutschland, das Establishment ist verlogen – mehr als ein Viertel der Bürger vertritt laut der neuen „Mitte-Studie“ im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung solche neurechten Einstellungen. Umgekehrt unterstützt mehr als die Hälfte die Aufnahme von Flüchtlingen.

Ein rechtsgesinnter Reichsbürger erschießt einen Polizisten. Ein katholischer Bischof bekommt Todesdrohungen, weil er einen muslimischen Bundespräsidenten für vertretbar hält. 832 Angriffe gegen Flüchtlingsheime in Deutschland alleine in den ersten zehn Monaten des laufenden Jahres zählt das Bundeskriminalamt. „Das sind nur drei aktuelle Höhepunkte der demokratiefeindlichen Zeit, in der wir leben“, lautet der Befund von Sozialwissenschaftlerin Daniela Krause.

Zum sechsten Mal hat die Friedrich-Ebert-Stiftung eine repräsentative Erhebung als Grundlage für ihre „Mitte-Studie“ durchführen lassen. Wissenschaftlicher Partner ist wie 2014 das Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld (bis 2012 in Kooperation mit der Universität Leipzig). Für die Erhebung wurden von den Autoren Professor Andreas Zick (Projektleitung), Professorin Beate Küpper und Daniela Krause die Inhalte von 1.896 Telefoninterviews mit repräsentativ ausgewählten Deutschen im Befragungszeitpunkt Juni bis August 2016 ausgewertet.

Inhaltliche Schwerpunkte der Studie mit dem Titel „Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände“ sind die Wahrnehmung von Flucht und Migration, Gewaltbilligung und -bereitschaft, rechtspopulistische Einstellungen, die Akzeptanz oder Zurückweisung kultureller Vielfalt sowie das Ausmaß von Demokratiemisstrauen. Neben der langfristigen Entwicklung rechtsextremer Einstellungen wird auch Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) im Langzeitvergleich abgebildet.

Gelassenheit bei Flüchtlingsfrage

Die Einschätzung beruht auf den Ergebnissen einer wissenschaftlichen Studie des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland, deren Mitautorin Krause ist. Die überraschendste Erkenntnis: Die Grundhaltung in der Flüchtlingsdebatte ist deutlich positiver, als vielfach angenommen. Über die Hälfte der Befragten äußerte sich wohlwollend, was die Aufnahme von Geflüchteten in Deutschland betrifft und zeigte sich optimistisch, dass es der Gesellschaft gelingt, die aktuelle Situation zu bewältigen.

Sich persönlich durch Flüchtlinge in ihrer Lebensweise oder finanziell bedroht zu fühlen, war lediglich für eine kleine Minderheit ein Thema. Demnach finden es 20 Prozent der Befragten explizit „eher nicht“ oder „überhaupt nicht“ gut, dass Deutschland viele Flüchtlinge aufgenommen hat. Auch ein offener Antisemitismus geht zurück. Ebenso sind Abwertungen von Menschen mit homosexuellen Orientierungen rückläufig.

Bestätigte Trends – überraschende Erkenntnisse

Die Kehrseite der Medaille: Gleichzeitig befürchtet rund ein Viertel der Befragten ein Absinken des Lebensstandards hierzulande bedingt durch den Flüchtlingszustrom. Rechtspopulistische und rechtsextreme Einstellungen bewegen sich im Vergleich zu 2014 auf stabilem Niveau. Sie sind im Vergleich zum Ausmaß zwischen 2006 und 2012 aber deutlich geringer ausgeprägt. Die Zustimmung zu Vorurteilen gegenüber asylsuchenden Menschen stieg dagegen von 44 Prozent im Jahr 2014 auf aktuell 50 Prozent.

Eine positive Grundhaltung, Gelassenheit und Bereitschaft zum Engagement für Geflüchtete steht der steigenden Zustimmung zu Vorurteilen gegenüber. Die von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Studie mit dem Titel „Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände“ unterstreicht vor allem eines: Unsere Gesellschaft ist tief gespalten.

Anstieg von Gewaltbereitschaft

Einer breiten demokratischen Mitte in Deutschland, die für Gleichwertigkeit und Demokratie eintritt und Gewalt ablehnt, steht auch eine protestbereite Gruppe gegenüber, die zwar klein, aber in hohem Maße gewaltbereit ist. Dieser Teil des Befunds ist auch für den SPD-Innenexperten Uli Grötsch, der für seine Partei als Obmann im NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss fungiert, ein entscheidender Wehrmutstropfen: „Bei mehr als 40 Prozent der Befragten, die sich an einer Demonstration gegen Zuwanderung beteiligen würden, finden wir eine hohe Gewaltbereitschaft. Dieser Umstand muss uns als Gesellschaft zu denken geben.“

Der Fall der rechtsterroristischen Vereinigung „Old School Society“ sei nur ein Beispiel, das zeige, dass immer mehr Rechtsextreme der Meinung seien, asylfeindliche Demonstrationen alleine genügten nicht mehr. „Bereits latente rechtsextreme Einstellungen in unserer Gesellschaft können ein erhebliches Risiko für unsere Demokratie und das friedliche Zusammenleben in unserer weltoffenen und toleranten Gesellschaft darstellen. Die Selbstenttarnung des ,Nationalsozialistischen Untergrunds‘ vor fünf Jahren muss uns immer mahnendes Beispiel sein.“

Subtile Form und intellektuelles Gewand

Dass die menschenfeindlichen Meinungen unter Befragten, die mit den Ideen der AfD sympathisieren, besonders augenfällig sind, ist der wenig überraschende Teil der Studie. „Deren Anhänger stimmen mehrheitlich fremdenfeindlichen und muslimfeindlichen sowie Abwertungen von asylsuchenden Menschen zu“, sagt Krause. Diese klassischen rechtsextremen Einstellungen werden jedoch zunehmend durch die modernisierte Variante neurechter Einstellungen abgelöst. Sie transportieren braune Ideologie in subtilerer Form und im intellektuelleren Gewand hinein in die Mitte der Gesellschaft.

Verschwörungsmythen in Bezug auf eine vermeintliche Unterwanderung durch den Islam, eine Beschimpfung des Establishments als verlogen und betrügerisch oder der Aufruf zum Widerstand gegen die aktuelle Politik bilden ein zusammenhängendes neurechtes Einstellungsmuster, das von fast 28 Prozent der Befragten vertreten wird. Bei den AfD-Wählern neigen sogar 84 Prozent zu solchen neurechten Einstellungen. Weniger als ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl klaffen die Leitbilder, an denen sich Menschen orientieren, immer weiter auseinander. Abschottung und Gewalt stehen Solidarität und zivilgesellschaftlichem Engagement für die Integration von Geflüchteten und Asylsuchenden gegenüber.

von

Günter Schwarz – 22.11.2016