Vor 25 Jahren endete die Ära der Sowjetunion. Der Zerfall des Riesenreichs und der Verlust an internationaler Bedeutung ist bis heute in Russland spürbar. Man trifft im ganzen Land Menschen, die tief gekränkt und enttäuscht sind, und sie suchen und finden Halt im autoritären Patriotismus Putins.


Ein Präsident zum Schämen: Boris Jelzin tanzt bei einem Musikfestival (1996). Keystone
Die ehemaligen Teilrepubliken der Sowjetunion, inzwischen 15 unabhängige Staaten, haben sich ganz unterschiedlich entwickelt. Die Balten gehören zur Europäischen Union, in zentralasiatischen Staaten wie Usbekistan oder Turkmenistan herrschen autoritäre Regime mit teils diktatorischen Tendenzen. Und in Russland, praktisch gesehen der Nachfolgestaat der UdSSR, sucht man 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR nach einer „nationalen Idee“.

Die Literaturpreisträgerin von 2015, Swetlana Alexiewitsch hat es in einem Interview im „Echo Moskaus“ sinngemäss so formuliert. Sie reise ständig durch die ehemalige Sowjetunion, durch Länder wie Ukraine, Weißrussland oder Russland, und überall treffe sie gekränkte und tief enttäuschte Menschen. Und das sei eine gefährliche Situation.

Alexiewitsch hat in ihren Büchern wie „Secondhand-Zeit“ in beeindruckender und überzeugender Art und Weise aufgezeigt, wie Menschen jeglicher Couleur das Ende des sowjetischen Imperiums erlebt haben, und wie sie sich heute im vermeintlich freien und demokratischen Russland fühlen.


Das Ende einer Ära: Die sowjetische Flagge weht an der Seite der russischen über dem Kreml (Dezember 1991). Keystone
Das Chaos der 1990er Jahre

Insbesondere die 1990er Jahre scheinen sich bei Millionen von Russinnen und Russen als eine Zeit festgesetzt zu haben, in der sie Armut, Unsicherheit und Chaos durchleben mussten. Geschichten darüber hört man unzählige. Ungeheizte Wohnungen, Betrügereien, Morde, Prostitution, Verkauf von Hab und Gut, um irgendwie überleben zu können.

Zur persönlichen Mühsal kam der Zerfall von Sitten, Anstand und Gepflogenheiten, die im autoritären, aber eben auch gesitteten sowjetischen Alltag noch galten. Und vor allem natürlich der Zerfall des Imperiums. Ehemalige Bruderstaaten, die sich – wie derzeit die Ukraine – statt nach Moskau in Richtung Westen, oder wie teils in Zentralasien, auf China ausrichten. Und zu guter Letzt gierige, hemmungslose Oligarchen und ein Präsident Boris Jelzin, der wohl viel Gutes wollte und einiges auch tat, aber insbesondere mit dem Tschetschenien-Krieg auch katastrophale Fehler beging. Jelzin gab in seiner zweiten Amtszeit mit seinen Alkoholproblemen eine Figur ab, für die viele Russen wenig Achtung mehr hatten.

Die fetten 2000er Jahre

Heute, 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, sieht es in Russland materiell und sozial gesehen besser aus. Die fetten 2000er Jahre mit riesigen Einnahmen aus Öl- und Gasgeschäft, satten Direktinvestitionen und einer konsumfreudigen Bevölkerung zeigten Wirkung. Aber dennoch: Im heutigen Russland, wo laut der Studie 75 Prozent des Vermögens in den Händen von einem Prozent der Bevölkerung liegen, bleiben viele Menschen unzufrieden und gekränkt. Und vom philosophischen Standpunkt gesehen bleibt die Suche nach der sogenannten „nationalen Idee“, die den Kommunismus ersetzen soll, ein zentrales Thema.


Nach dem Kommunismus: Wladimir Putin erklärte den „Patriotismus“ zur „nationalen Idee“. Keystone
Patriotismus lenkt ab von Versäumnissen

Präsident Wladimir Putin hat in den letzten Jahren explizit den „Patriotismus“ zu dieser Idee erklärt. Eine praktische Lösung. Denn in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten mit sehr durchzogenen Prognosen lässt sich so gut von eigenen Fehlern und Versäumnissen ablenken – insbesondere von einer Modernisierung und Reformierung des Landes, die auf halber Strecke stecken geblieben ist.

Eine Bilanz zu ziehen, nach einem Vierteljahrhundert im „freien“ Russland, ist da äußerst schwierig. Es gibt im Lande neben den „Gekränkten“ nämlich auch sehr viele zufriedene und stolze Menschen, die zuversichtlich in die Zukunft schauen. Versucht man, Menschen zu porträtieren, die einen Vergleich zu damals wagen – in Bereichen, die in der Sowjetunion zentral waren: Armee, Arbeiter und Bauern und über die nicht unumstrittene Rolle, die die Kirche heute wieder in der Gesellschaft spielen darf, so ist von Optimismus wenig zu spüren.

von

Günter Schwarz – 21.12.2016