Wenn John Wight vor kurzem sagte, „seismisch“ das einzige Wort sei, um 2016 zu beschreiben – was auf der Welt können wir dann über 1917 sagen? Es war das Jahr in dem nicht eine, sondern gleich zwei russische Revolutionen stattfanden.

Die USA brachen im Jahre 1917 mit ihrem Isolationismus, den sie bis dato in den rund 150 Jahren ihrer Selbständigkeit gepflegt hatten und bertraten die Weltbühne mit ihrer Beteiligung am Ersten Weltkrieg – und es war auch das Jahr der „Balfour-Deklaration“ – die letztendlich zur Gründung des Staates Israel führte.

Die dramatischen Ereignisse von vor hundert Jahren prägen heute noch unsere Welt. Es ist deshalb wichtig, dass wir das Jahr im Geiste noch einmal erleben und es genau studieren, da wir viel davon lernen können – und zwar vor allem von der einflussreichsten Persönlichkeit des Jahres.

Wenn Donald Trump die Person des Jahres 2016 war, gibt es keinen Zweifel, wer die Schlüsselfigur im Jahr 1917 war: Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt als Lenin. Der bärtige Marxist aus Simbirsk begann das Jahr im Exil und lebte mit seiner Frau in einem möblierten Zimmer in der Spiegelgasse Nr. 14 in Zürich. Zum Ende des Jahres war er der Führer des ersten kommunistischen Staates der Welt.

Nachdem bei der Februar-Revolution die Herrschaft des Zaren Nikolaus II. beendet war und eine provisorische Regierung in Petrograd übernahm, dachten viele, die Veränderung gefordert hatten, „Mission erfüllt“. Aber nicht Lenin. Seine Rückkehr in die Heimat im April veränderte die Situation historisch vollkommen. „Er rief zu sofortigem Frieden, zur sofortigen Beschlagnahmung von Land durch die Bauernschaft und zur sofortigen Übertragung aller Macht an die Räte auf“, dokumentierte der Historiker Christopher Hill in seinem Buch „Lenin and the Russian Revolution“.


Russland befand sich 1917 schon seit 2½ Jahren im Krieg und hatte 1 Million tote und verwundete Soldaten zu beklagen, während sich 2 Millionen in Kriegsgefangenschaft befanden.
Die bürgerliche Provisorische Regierung, die zunächst von konservativen und liberalen Mitgliedern dominiert wurde, erweiterte ihre Basis um die Linken, aber fatalerweise verpflichtete sie sich weiterhin der Teilnahme an einem Krieg der Kapitalisten.

Die Bolschewiki wurden im Juli verboten und Lenin tauchte wieder einmal unter. Doch als General Kornilow im August einen konterrevolutionären Putschversuch auf den Weg brachte, musste sich der kriegsfreundliche Premier Kerenski auf die Unterstützung der bolschewistisch dominierten Sowjets verlassen, um an der Macht zu bleiben. Die Tage der provisorischen Regierung waren gezählt, als die Unterstützung für die Bolschewiki im Volk anstieg. Am 25. Oktober nach dem damals in Russland gültigen julianischen Kalender und dem 7. November nach dem im restlichen Europa gültigen gregorianischen Kalender übernahmen Lenin und seine Kameraden die Macht.

Später schrieb Lenin über die Bedeutung dessen, was erreicht worden war: „Seit Hunderten von Jahren wurden Staaten nach dem bürgerlichen Modell aufgebaut. Und nun wurde zum ersten Mal ein nicht-bürgerlicher Staat entdeckt.“

Es ist wahrscheinlich, dass ein Großteil der westlichen Linken, infiziert von Liberalismus und besessen von Identitätspolitik und politischer Korrektheit, die Hundertjahrfeier der Oktoberrevolution in diesem Jahr belächeln und sagen werden: „Das hat nichts mit uns zu tun, Genosse“ und weiter Liebesbriefe an Hillary Clinton schreiben. Aber ich glaube, es gibt wichtige Lehren, die aus der von Lenin angewandten Strategie aus dem Jahre 1917 gelernt werden können – und die Linken lehnen sie auf eigene Gefahr ab.

Wie es schon vor hundert Jahren der Fall war, bewegt sich ein korruptes, arrogantes und grässlich realitätsfernes Establishment am Rande des Abgrunds. Wie es schon vor hundert Jahren der Fall war, ist die Kluft zwischen Reich und Arm wirklich erstaunlich. Erst im vergangenen Januar deckte Oxfam auf, dass die Hälfte des Vermögens der Welt nur 62 Personen gehört. Ja, richtig – 62!

Aber anders als vor 100 Jahren ist es heute die populistische Rechte und nicht die Linke, die all die Fortschritte macht. Anstatt den Populismus der Arbeiterklasse zu hegen und sich an der Spitze der Anti-Establishment-Proteste zu positionieren, wie Lenin und die Bolschewiki es im Jahre 1917 taten, scheint die liberal dominierte westliche Linke von heute vor der proletarischen rebellischen Gesinnung Angst zu haben. Stattdessen hat sie sich Punkt für Punkt an die Seite des neoliberalen, militaristischen Establishments gestellt.

Das sieht man an der Verpflichtung der liberalen Linken zum Parlamentarismus und dem Versagen, demokratischere Möglichkeiten der Organisierung der Gesellschaft zu fördern, zum Beispiel die verstärkte Nutzung von Referenden, die Einführung von Arbeiterräten und Volksversammlungen und gewählten Volksgerichten (interessanterweise schien die Verpflichtung zum Parlamentarismus im Jahr 2014 nicht für die Ukraine gelten, als viele „liberale Linke“ aus dem Westen den gewaltsamen Umsturz der demokratisch gewählten Regierung unterstützten).

Wir sehen es auch daran, dass die grundlegenden Fragen, die den Alltag der einfachen Menschen beeinflussen wie der Broterwerb, weitgehend ignoriert werden und der Fokus stattdessen auf das Führen von Kulturkämpfen und das Werben für Kriege der „liberalen Intervention“ im Nahen Osten verschoben wird, die nur den Interessen der Elite dienen.

Tatsache ist, dass die liberale Linke sich heutzutage von den Interessen der Arbeiterklasse genauso losgelöst hat, wie im Jahre 1917 die ,reformistischen Linken‘ Gegner der Bolschewiki waren, die nur sagen konnten: „Bitte warten Sie auf die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung“, während Millionen von Russen verhungerten. Lenin gab sich keinen Illusionen über die „liberale Demokratie“ hin und wer von ihr profitierte. „Demokratie für eine verschwindende Minderheit, die Demokratie für die Reichen – das ist die Demokratie der kapitalistischen Gesellschaft“, schrieb er 1917.

Er wusste, dass die russische Beteiligung am Krieg enden musste. Dass das Land unverzüglich den Bauern übergeben werden musste. Dass die russische Wirtschaft radikal umstrukturiert werden musste. Sein Slogan „Frieden! Brot! Land!“ hallte im ganzen Land nach.

Sie müssen kein Bolschewik oder gar Sozialist sein, um Lenins Klarheit und Zielstrebigkeit zu bewundern.

„Im Jahr 1917 war es die bolschewistische Herrschaft über die ,Fakten‘, die entscheidend war“, so Christopher Hill. „Die Partei wusste genau, was sie wollte, welche Zugeständnisse sie verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zu bestimmten Zeitpunkten machen musste, wie sie die Massen der Bevölkerung durch ,Taten‘ überzeugen können.“

Das hundertjährige Jubiläum der Oktoberrevolution und die zehn Tage, die die Welt erschütterten, sollten die echte Linke zur Tat bewegen. Aber wenn das liberale Kuckucksei seinen Willen durchsetzt, werden es die Rechten sein, die im Jahr 2017 wieder mit der Unterstützung der Arbeiterklasse vorangehen.

von

Günter Schwarz – 09.01.2017