Die ARD zeigte am Mittwoch, dem 25. Januar, den TV-Film „Wunschkinder“ über ein deutsches Paar, das ein Kind in Russland adoptieren will. Den Medien zufolge kommt dieser „ohne Vorurteile und moralische Überlegenheit“ aus. Auch wir sahen uns das Gerichtsdrama an und kamen zu folgendem Ergebnis.

Es geht um Kinderwunsch und Adoption und damit um Hoffnung, Enttäuschung, Bangen, Entfremdung, Wut, Dankbarkeit, Entschlossenheit, Freude, Glück usw. usf. – Wenn dem Seher nach dem Zuschauen so viele Wörter einfallen, dann war der Film gut. Und jeder Filmemacher weiß, wie es schwer ist, einen guten Film zu drehen.

Der Film „Wunschkinder“ ist nach allen Regeln des Filmhandwerks gedreht. Drehbuch, Schauspieler, Kameraführung, Regie: Sie alle schaffen einen dem Thema gerechten Ton und Stimmung, sie erzeugen die nötige Spannung und lassen die Story mit ihren Hauptprotagonisten als glaubwürdig erscheinen. Wenn diese Hauptelemente stehen, wird sich der Rest schon von selbst ergeben, der Zuschauer verzeiht viel. Und Kritik an kleinen Fehlern, die es immer gibt, verstummt, bevor sie als kleinliches Nörgeln rüberkommt.

So war es auch mit Blick auf den Film „Wunschkinder“. Sehr genau erzählt, ohne Kitsch und Eindringlichkeit, ist der Zuschauer nach maximal zehn Minuten schon voll bei den Hauptfiguren Marie und Peter, die auf keinen Fall kinderlos bleiben wollen. Jede Entscheidung in ihrem Leben wird – natürlich auch dank sehr guter schauspielerischer Leistungen von Viktoria Mayer und Godehard Giese – in einem dramatischen Kontext getroffen, erscheint glaubwürdig und wird deshalb auch vom Zuschauer respektiert.

Eine dieser Entscheidungen ist der Entschluss, ein Kind in Russland zu adoptieren – nachdem das Paar feststellen musste, dass es für eine Adoption im eigenen Land mit Anfang vierzig zu alt ist: Eigene Kinder zu bekommen ist dem Paar aus anatomischen Gründen nicht möglich. Die Ostdeutsche Maria kann sogar noch ein russisches Kinderlied nachsingen und durch ihre DDR-Sozialisation fühlt sie sich irgendwie russlandaffin. Schnell frischt sie ihre Russlandkenntnisse auf und nachdem alle vorläufigen Formalitäten erfüllt sind, begibt sie sich mit ihrem Mann auf die Reise „nach Osten“.

Diese Reise ist auf der europäischen und besonders der deutschen mentalen Karte eine Grenzüberschreitung. Diese ohne Verluste zu passieren, fällt vielen Filmmachern immer wieder schwer. Doch der Film verliert auch in den Abschnitten, die in Russland spielen, nicht an Achtung und Wärme. Mehr noch: Richtig emotional wird es eben in diesem Russland des Jahres 2000. Dem Film liegt auch tatsächlich eine wahre Geschichte zugrunde, die sich in jenen Jahren abgespielt hatte.

Nach einem schwierigen Jahrzehnt der Rückabwicklung des Staates aus allen Vorsorgebereichen, das Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion erlebte, gingen die Geburtenraten in Russland dramatisch zurück, die Sterberate schoss dagegen in die Höhe. In diesem vom Armut und Desintegration geprägten Land konnte jeder Westler als „Botschafter des Wohlstandes“ durchaus wie ein etwas dümmlicher Supermann erscheinen. Diese Gefahr ist bei der Kinderadoption aus Heimen besonders groß. Die Filmemacher scheinen sich dieser Gefahr bewusst zu sein und bleiben auch in Russland bei dem am Anfang angesetzten dezenten Erzählton. Dieser lässt keinen Krawall der stereotypisierten Bilder zu.

Doch ganz ohne die Fremdbilder funktioniert kein Film über das Ausland, auch dieser nicht. Die russischen Menschen erscheinen emotional und gastfreundlich, nett und hilfsbereit. Die selbstlosen russischen Helfer der Protagonisten und das sind im Film mindestens drei, sind nahezu makelfrei. Außerdem sprechen sie alle fließend Deutsch. 

Dabei sind sie allesamt Einwohner von Petrozawodsk, der Hauptstadt von Republik Karelien, im Grunde einer großen Provinzstadt im Norden Russlands mit der Grenze zu Finnland. Ein Loblied auf das russische Bildungssystem? Oder eine peinliche Übertreibung? Wie dem auch sei, den Protagonisten ist das wichtig. „Das mag ich an Russland“, fasst irgendwann Maria zusammen, die beim Warten auf die Gerichtstermine fast ins Kinderheim einzieht zu ihrer Adoptivtochter, der einjährigen Nina.

Selbst die einsame Richterin, grotesk überzeichnet, von einer Deutschen gespielt, deren Ablehnung der Adoption in erster gerichtlichen Instanz die deutschen Adoptionswerber wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft und ihnen unendliches Leid zufügt, ist keine ultimativ negative Person. Vielmehr entpuppt sie sich nicht als das Böse im Film, sondern als Prüferin, die die Helden vor ihrer Gewährprobe stellt: „Sie sind sicherlich gute Eltern, aber suchen Sie sich ein anderes Kind“, sagt sie „abseits des Protokolls“.

So spielte sie im obligatorischen Protagonistengefüge des Drehbuches die Rolle eines vermeintlichen Feindes. Im Gegenzug disqualifizierte sich der Chef vom Peter von einem väterlichen Beschützer zum falschen Berater. 

An solchen Details erkennt man in der Regel ein gutes Drehbuch. Der Film konnte sich jedenfalls von vielen Dramen dieser Art positiv abheben. Ob er „Klischees“ bedient oder nicht, kann im Endeffekt kein Kritiker entscheiden. Denn wo der eine diese in „Wunschkinder“ nicht vorfindet und dem Film keine „Armutsromantisierung“ bescheinigt, sieht der andere ebendiese in „Schlaglöchern, Ladas und Industrieruinen spürbar“.

Andere wiederum sehen in der anfänglichen Sturheit der Richterin, die mangels einiger Papiere kaum überraschend das Kind dem deutschen Paar nicht zur Adoption freigibt, unbedingt „die Härte, die gegen die Scham ankämpft, dass dieses große Land so viele seiner Schwächsten einfach nicht haben will.“

An anderer Stelle freuen sich Filmkritiker, dass der Film ohne Klischees und moralische Überlegenheit auskommt.


Die Richterin im Film: „Sie ist die einzige Figur, bei der Regisseurin Atef übers Ziel hinausgeschossen ist; die Frau wirkt wie die Gulag-Aufseherin eines drittklassigen Films aus der Zeit des Kalten Krieges.“ (evangelisch.de)
Diese scheinen aber bei manchen Rezipienten trotzdem durchaus vorhanden zu sein, wie obiges Zitat es deutlich zeigt. Sie helfen, den Plot in einen bequemen, bestehenden Narrativ einzufügen.

Wenn wir der Autorin Marion Gaedicke zuhören, deren Erlebnisse die Drehbuchautoren dem Film zugrundelegten, ist das auch falsch interpretiert: „Der schlimmste Moment war, als diese Richterin in Karelien zu uns sagte: ,Sie bekommen dieses Kind nicht, nehmen Sie sich doch ein anderes‘. Daraufhin habe ich gesagt: ,Wir sind doch nicht zum Einkaufen hier! Dieses Kind hat uns der russische Staat zugewiesen, weil es das nächste Kind war, das zur Adoption freigegeben war‘.“

Um den Hintergrund zu verstehen, hilft ein wenig Statistik. Im Jahr 2000, in dem der Film spielt, wurden ca. 7.500 Waisen von russischen Staatsbürgern adoptiert, etwa 6.200 von ausländischen. Seit 2004 geht die Zahl der Auslandsadoptionen steil nach unten. Diese umfasste im Jahr 2015 etwas mehr als 1.000 Kinder. Diese Zahl entspricht 1,6 Prozent aller Formen familiärer Unterbringung, inklusive Adoption in russischen Familien.

Zweifellos erfasste der Film ein für Russland großes soziales Problem. Aber auch, wenn er sich sichtlich um „gute“ Fremdbilder bemüht, bürdet er sich zumindest keine übermenschlichen Anstrengungen auf, wenn es darum geht, bereits vorhandene negative Haltungen in den Köpfen der Rezipienten zu bestätigen. Die „Süddeutsche Zeitung“ verrät in der grammatikalischen Form ihrer Darstellung jedenfalls, dass sie nicht das Russland des Jahres 2000 meint, als das genannte Problem im Wesentlichen tatsächlich existierte, sondern Russland allgemein.  

Der Film ist in der ARD-Mediathek noch bis zum 24. April zu sehen:

http://www.ardmediathek.de/tv/FilmMittwoch-im-Ersten/Wunschkinder/Das-Erste/Video?bcastId=10318946&documentId=40185258

von

Günter Schwarz– 01.02.2017