Seit rund zwanzig Jahren haben die Finnen in internationalen Schul- und Bildungsrankings die Nasen vorn: Trotzdem will das Land im hohen Norden sein Schulsystem überdenken – und vielleicht sogar so weit gehen, die klassischen Schulfächer abzuschaffen.

Finnlands Schülerinnen und Schüler sollen fit für den modernen Alltag gemacht werden. Phänomen-basiertes Lernen (PBL) heißt die Lehrmethode, die in diesem Jahr erstmals landesweit angewandt wird und klassische Unterrichtsfächer irgendwann obsolet machen soll. Geschult wird dabei vor allem die direkte Beobachtungsgabe. Denn wer lernt, genau hinzuschauen, so hofft man in Finnland, fällt später nicht so leicht auf „Fake News“ herein.

Experten staunen schon lange, und Michael Moore trug die Wundernachricht als Doku („Where to Invade Next“) nach Amerika: Finnische Schülerinnen und Schüler werden erst mit sieben Jahren eingeschult, sie haben kurze Schultage, lange Ferien, bekommen kaum Hausaufgaben und schreiben keine Prüfungen. Und trotzdem produziert das kleine Land mit den langen Wintern Jahr für Jahr die besten akademischen Resultate.

Mut zu kollaborativem Lernen

Seit August 2016 sind finnische Lehrerinnen und Lehrer von der Bildungsbehörde in Helsinki und deren mittlerweile berühmter Leiterin Marjo Kyllönen nun auch angewiesen, möglichst „fächerübergreifend“ zu unterrichten. Kollaboratives Arbeiten ist angesagt: Schüler sollen sich einen Interessensschwerpunkt suchen und dann passende Themen rund herum arrangieren.

Wenn Kyllönen mit ihren Kolleginnen und Kollegen Maßnahmen wie diese plant, macht sie es sich selbst möglichst gemütlich (siehe ihr Tweet oben). Und ähnlich angenehm und fröhlich soll auch die Lernerfahrung in der Klasse sein. Geht es beispielsweise um das alte Rom, kann eine Arbeitsgruppe ein römisches Gelage mit den damals verfügbaren Lebensmitteln nachstellen. Eine andere kann versuchen, das Kolosseum mit dem 3-D-Drucker nachzubilden und eine dritte vielleicht ein Brettspiel zum Thema entwickeln.

Schüler zu kritischen Geistern erziehen

Wichtig ist es, nach finnischen Erkenntnissen, die Schüler bei ihrer Suche nach innovativen Lösungen zu ermutigen und keinesfalls am vorgegebenen Unterrichtsmaterial picken zu bleiben. Gerade „die Welt da draußen“ soll die Quelle der Erkenntnis sein. Und wenn vom alten Rom auf der Straße keine Spuren zu finden sind, geht man eben ins Museum oder befragt einen Experten von der Uni, wie es den Römern, Männern und Frauen, Herren und Sklaven, im damaligen Alltag wirklich ergangen sein könnte.

Ältere Schüler führen, wie die BBC in ihrer Reportage aus dem kleinen finnischen Ort Hauho berichtet, Straßenumfragen zum Thema Einwanderung und Flüchtlinge durch, um ein Gefühl für die Haltung der Menschen zu bekommen. Anschließend fahren die 15-Jährigen gemeinsam in ein benachbartes Flüchtlingsheim, um auch dort Interviews zu führen. Ihre Eindrücke teilen sie anschließend per Video-live-stream mit einer Partnerschule in Deutschland, die ein ähnliches Projekt zum Thema Einwanderung durchführt.

Hinschauen statt Auswendiglernen

PBL oder „Phänomen-Unterricht“ lautet der Fachbegriff für diese Form des Lernens, die dafür sorgen soll, dass die Schüler ihre Schule als kritische Geister verlassen. Kirstin Lonka, Professorin für Erziehungspsychologie an der Universität Helsinki, nannte gegenüber der britischen BBC eines der wichtigsten Argumente für PBL: Im 21. Jahrhundert werde es immer wichtiger, „Fake News“ von Fakten zu unterscheiden. Und das könne eben derjenige am besten, der die eigene Beobachtung schule.

Weniger wichtig sei es dagegen im Jahr 2017, einzelne Fakten aus den Bereichen Arithmetik oder Grammatik zu memorieren. So etwas könne man recherchieren. Von Vorteil seien allerdings praktische Fähigkeiten, wie die, eine Anti-Viren-Software auf dem Computer installieren oder einen Drucker anschließen zu können. Die finnischen Schüler sollen auch fit für den modernen Alltag gemacht werden.

„Werkzeuge für die postfaktische Welt“

Ein Schubladendenken in Schulfächern sei da nur hinderlich: „Im echten Leben ist unser Gehirn ja auch nicht in Scheibchen aufgeteilt, die unterschiedlichen Disziplinen zugeordnet sind“, so Lonka gegenüber der BBC, „vielmehr funktioniert unser Denken immer ganzheitlich. Wenn man an die Weltlage denkt – globale Krisen, Migration, die wirtschaftliche Lage: Wir haben unseren Kindern noch nicht einmal ansatzweise die Werkzeuge in die Hand gegeben, um in der postfaktischen Welt zu bestehen.“

„Lernen heißt Denken lernen“

Es wäre ein grober Fehler, den Kindern zu vermitteln, dass es weiterhin „Fakten gebe“, die man nur auswendig zu lernen brauche. Lernen bedeute vielmehr „Denken zu lernen“, sich das Nachfragen anzugewöhnen und vor allem, das Lernen als Spaß und Luxus zu begreifen, der das Leben bereichert.

von

Günter Schwarz – 30.05.2017