Untergang der „Cap Arcona – Im Kalkül der SS der Irrtum der Briten
(Neustadt/H.) – Eine der größten Schiffskatastrophen der Geschichte ereignete sich in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkrieges in der Lübecker Bucht. Mehr als 7.000 Menschen kamen dabei heute vor 75 Jahren, am 3. Mai 1945, ums Leben.
Sie wurden die Opfer eines folgenschweren Irrtums der Royal Air Force. Britische Bomber versenkten das deutsche Passagierschiff „Cap Arcona“ und den Frachter „Thielbek“ vor Neustadt in Holstein, die ca. drei Kilometer vor der Küste lagen. Die Schiffe waren eher zufällig ins Fadenkreuz der Bomberpiloten geraten. An Bord waren allerdings nicht wie von den Piloten angenommen deutsche Truppenverbände, sondern hauptsächlich evakuierte Häftlinge aus dem Hamburger KZ Neuengamme.
Die SS hatte es offenbar in Erwägung gezogen und die Häftlinge bewusst auf die Schiffe verbracht. Kein KZ-Häftling dürfe in die Hände der Alliierten fallen, befahl SS-Chef Heinrich Himmler, als die Briten bereits auf Hamburg vorrückten. Um die Verbrechen des Nazi-Regimes an Kz-Häftlingen zu vertuschen, begann die SS im KZ-Neuengamme hastig, das Lager zu räumen und Spuren ihrer Verbrechen so gut es ging zu verwischen. Die alliierten Verbände sollten das Lager spurlos und leergefegt vorfinden.
Gemeinsam beschlossen der Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann, der zugleich Reichskommissar für Seeschifffahrt war, und Hamburgs SS-Führer Graf Bassewitz-Beer, die KZ-Häftlinge auf zwei in der Lübecker Bucht ankernde Schiffe zu bringen. Dass die Schiffe von der britischen Luftwaffe möglicherweise für Truppentransporter gehalten werden, gehörte zu ihrem perfiden Kalkül.
Zu Fuß und in Güterzügen werden rund 10.000 Häftlinge in den letzten April-Tagen nach Lübeck getrieben. Dort mussten sie im Vorwerker Industriehafen auf die „Athen“ und andere beschlagnahmte Zubringerschiffe umsteigen, die sie zur „Cap Arcona“ übersetzten.
Der 330 Meter lange Luxusliner, 1927 bei Blohm & Voss in Hamburg gebaut, das einst vor dem Krieg eines der elegantesten und mondänsten Passagierschiffe seiner Zeit war, lag seit dem 14. April mit einem Maschinenschaden manövrierunfähig vor Neustadt. Noch 1942 hatte die UFA an Bord des Schiffes den Film „Der Untergang der Titanic“ gedreht.
Während des Krieges diente die „Cap Arcona“ lange Zeit als schwimmende Kaserne und lag gemeinsam mit der „Wilhelm Gustloff“ in Gotenhafen (Gdynia) vor Anker und evakuierte zuletzt Zivilisten und Soldaten aus Ostpreußen. Nach dem Maschinenschaden wurde sie von der Marine an die Reederei Hamburg-Süd zurückgegeben. Damit gelangte sie in den Zuständigkeits- und Machtbereich Hamburger Gauleiters Karl Kaufmanns.
Mit dem Beginn der KZ-Räumung informierte die SS die Kapitäne der „Cap Arcona“ und des Frachters „Thielbek“, Bertram und Jacobsen, dass ihre Schiffe für eine Sonderoperation benötigt werden. Beide weigerten sich entschieden, ihre Schiffe als schwimmende Konzentrationslager zur Verfügung zu stellen, beugten sich aber schließlich dem Druck und den Gewaltandrohungen durch die seinerzeit nahezu allmächtige SS.
Noch während die ersten Häftlinge auf der „Cap Arcona“ ankamen, sorgte die SS dafür, alle Fluchtmöglichkeiten zu blockieren und die Rettungsboote, von wenigen Ausnahmen für die Wachmannschaften, der beiden Schiffe unbrauchbar zu machen. Dieses deutet zusammen mit den weiteren Maßnahmen darauf hin, dass geplant war, die „Cap Arcona“ notfalls durch Sprengung zu versenken. So wurden von der SS die automatischen Schotten zerstört und das Schiff mit einer geringen Treibstoffmenge betankt, die als Brandbeschleuniger allerdings völlig ausreichte.
Am 3. Mai 1945 dümpelten die „Thielbek“ und die „Cap Arcona“ mit insgesamt rund 7.500 Häftlingen an Bord in der Lübecker Bucht. Zu diesem Zeitpunkt wussten die Alliierten um die Vorgänge in der Ostsee, und das Schweizer Rote Kreuz hatte die britischen Bodentruppen in Lübeck über die Schiffe und deren Verwendung als KZ-Schiffe informiert. Doch die Information gelangte nicht zu den Piloten der Royal Air Force – und bei den Aufklärungsflügen an diesem Morgen wurden die winkenden Häftlinge nicht wahrgenommen. So lautete daraufhin der schicksalsträchtige Einsatzbefehl No. 73 am 3. Mai 1945: „Zerstörung der feindlichen Schiffsansammlung in der Lübecker Bucht westlich der Insel Poel und nach Norden hin zur Grenze der Sicherheitszone.“
Am frühen Nachmittag begannen die britischen Bomber der 2. Taktischen Luftflotte ihren letzten Großangriff über der Ostsee. Typhoon-Kampfflugzeuge des 198. Geschwaders nahmen zuerst das deutsche Passagierschiff „Cap Arcona“ und eine Stunde später den Frachter „Thielbek“ unter Beschuss. Auf die „Cap Arcona“ wurden insgesamt 64 Bomben abgeworfen, und sie stand im Handumdrehen vom Bug bis zum Heck in Flammen. Die SS versuchte, die Häftlinge unter Deck zu halten, während die wenigen funktionstüchtigen Rettungsboote mit SS-Leuten besetzt zu Wasser gelassen wurden. Von den 4.500 KZ-Häftlingen an Bord überlebten 350 nur durch Zufall und nicht durch deutsche oder alliierte Rettungsmaßnahmen. Von der Besatzung – Wachen, SS-Personal und Crew – konnten sich etwa 80 Prozent in Sicherheit bringen, darunter auch Kapitän Bertram.
Die „Thielbek“ sank innerhalb von 20 Minuten nach dem Luftangriff. Britische Kampfflieger beschossen selbst die Rettungsboote auf ihrem Weg ans Neustädter Ufer. Von den 2.800 Häftlingen erreichten lediglich 50 lebend das Land. Auch Kapitän Jacobsen und die meisten Seeleute waren unter den Toten. Die „Athen“ lag zur Zeit des Angriffs im Neustädter Hafen – allein diese Tatsache rettete den knapp 2.000 Häftlingen an Bord des Schiffes das Leben.
Viele Opfer wurden in Massengräbern entlang der Küste zwischen Neustadt und Pelzerhaken verscharrt. Heute reiht sich dort ein Campingplatz an den anderen. Doch zeugen in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern noch rund ein Dutzend Friedhöfe von der „Cap Arcona“-Katastrophe. Die bedeutendsten Gedenkplätze liegen in Gronenburg-Neukoppel und in Neustadt/Holstein. Unter den Toten, die dort geehrt werden, sind auch etwa 200 Häftlinge des KZ Stutthof östlich von Danzig, die über die Ostsee nach Neustadt kamen und dort am Morgen des 3. Mai 1945 von SS-Leuten – unterstützt von Marinesoldaten – erschossen wurden.
„Die Hauptverantwortlichkeit für eine der schwersten Schiffskatastrophen der Geschichte liegt allem Anschein nach auf deutscher Seite“, schreibt Wilhelm Lange, Stadtarchivar aus Neustadt, denn sie haben „den Alliierten eine hinterhältige Falle gestellt“. Andererseits unterliefen den Briten folgenschwere Pannen bei der Weiterleitung der Informationen. Bis heute hat kein Gericht die Verantwortung deutscher und britischer Beteiligter an der Tragödie bei Neustadt aufgearbeitet.
Der Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann wurde am 4. Mai 1945 von den Briten verhaftet und interniert. Im Oktober 1948 wurde er aus gesundheitlichen Gründen freigelassen, denn er hatte im Juni 1945 bei einer Autofahrt, die er unter britischer Bewachung zu einer Vernehmung im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher unternehmen musste, einen schweren Autounfall erlitten, der einen längeren Krankenhausaufenthalt notwendig machte. Trotz Kaufmanns „politischer Verantwortung“ für alle nationalsozialistischen Verbrechen in Hamburg und damit auch für die Verbrechen, die im KZ Neuengamme begangen worden waren, wurde er nicht von der britischen Militärgerichtsbarkeit angeklagt. Kaufmann lebte bis zu seinem Tod am 4. Dezember 1969 als gutsituierter Bürger in Hamburg.
Generalleutnant der Waffen-SS und Polizei während des Zweiten Wektkriegs Georg-Henning Graf von Bassewitz-Behr wurde er im September 1945 festgenommen und wegen der im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel begangenen Straftaten im Rahmen der Hamburger Curiohaus-Prozesse vor ein britisches Militärgericht gestellt. Nachdem er im August 1947 im Curiohaus als Kriegsverbrecher freigesprochen worden war, wurde er am 16. September 1947 den sowjetischen Behörden überstellt. Für den Mord an den 45.000 Zivilisten in der Gegend von Dnjepropetrowsk wurde er zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er starb zwei Jahre später in einem Arbeitlager in Ostsibirien.
von
Günter Schwarz – 03.05.2020