Dostojewski fügt seinen »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch« einen kurzen Kommentar bei, dass Figuren und Handlung seiner Erzählung zwar erfunden seien, bei den Zuständen der Gesellschaft jedoch nicht nur möglich, sondern sogar unausbleiblich seien. Damit werden die selbstzerstörerischen Aufzeichnungen seines Protagonisten zu einer Absage an den »modernen Menschen« und der von ihm geschaffenen Welt, sowie ein Manifest an das »Schöne und Erhabene«, welches durch seine literarische Tiefe innerhalb eines modernen Weltbildes zum Scheitern verurteilt bleibt.

Dostojewskis Erzählung spaltet sich in zwei Teile. Im ersten Teil richtet sich der Protagonist, ein etwa 40-jähriger ehemaliger Kanzleiangestellter, der seinen Lebensunterhalt aus einer bescheidenen Erbschaft bestreitet und geplagt von Trägheit und Niedertracht, in einem selbstgewählten Exil am Rande von Sankt Petersburg lebt. Der namentlich nicht genannte Protagonist richtet sich in einer essayistischen Aufzeichnung an sich selbst, verliert sich dabei aber immer wieder in Anreden und Erklärungen an ein mögliches Publikum. Im Mittelpunkt seiner Niederschrift stehen polemisch-scharfe Analysen einer modernen Gesellschaft und seiner eigenen Person, die er als bösartig, heruntergekommen und häßlich beschreibt, gleichzeitig aber auch als intellektuell erlesen und gebildet. Insbesondere deswegen sieht er seinen eigenen Verfall und die soziale Abgrenzung von einer modern-oberflächlichen Gesellschaft als natürlich und auch notwendig an.

Im zweiten Teil erzählt der Protagonist von zurückliegenden Ereignissen, die sein gesellschaftliches und persönliches Scheitern dokumentieren. In der ersten Episode trifft er sich mit ehemaligen Klassenkameraden, die sich alle im Gegensatz zu ihm in gehobenen Ständen befinden und ihm mit gehöriger Herablassung und Ablehnung begegnen. Voller Aggression findet sich der Erzähler nach dieser Begebenheit in einem Bordell wieder, wo er der jungen Prostituierten Lisa ins Gewissen redet und sich als Retter anbietet. Nachdem Lisa ihn tatsächlich in seiner Wohnung aufsucht, beginnt er, sie mit vielen Selbstvorwürfen, sprachlich adäquat in Szene gesetzt, zurückzuweisen.

Niemand will solche bösen Wahrheiten bei sich selbst erkennen, die Dostojewski in seinen »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch« in aller Härte schildert. Doch gerade hier mag sich »Gut« von »Böse« trennen und eine Gesellschaft offenbaren, in der sich »der Gute« naiv und weltfremd mit einer selbstreferentiellen Darstellung zufrieden gibt. Der Protagonist erkennt, dass »ordentliche Menschen mit dem allergrößten Vergnügen über sich reden«. Dostojewski übernimmt die Verteidigung einer persönlichen Freiheit gegenüber gemeinschaftlicher Glückseeligkeit und der Abhängigkeit vom System – auch wenn diese Freiheit unwideruflich mit Ausgrenzung und ständigem Selbstzweifel gestraft wird. Der denkende Mensch wird damit zu einem Aussätzigen, während dekadent-leichtfüßiger Hedonismus mit gesellschaftlicher Achtung und Position belohnt wird. Ein Zustand, der uns auch in unserer Gesellschaft absolut vertraut erscheinen mag.

»In der Tat: jetzt möchte ich eine müßige Frage stellen: was ist besser – billiges Glück oder erhabenes Leid? Nun also, was ist besser?«

Fjodor M. Dostojewskij
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
S. Fischer Verlage
Roman, Taschenbuch
Aus dem Russischen von Swetlana Geier
Preis € (D) 9,00 | € (A) 9,30 | SFR 13,50
ISBN: 978-3-596-90102-9

von
Michael Schwarz – 10.05.2016
Illustration (c) 2015 von LuBlu, MASSOLIT.de



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