Der russische Präsident, Wladimir Putin, und sein türkischer Amtskollege, Recep Tayyip Erdoğan, verhandelten am Dienstag in Sankt Petersburg. Das Spektrum der zu erörternden Fragen reichte vom Lebensmittelembargo über das Pipeline-Projekt „Turkish Stream“ bis hin zum Tourismus. Es war die erste Zusammenkunft der Politiker nach dem Abschuss einer russischen Su-24 über Syrien, der eine scharfe Krise in den bilateralen Beziehungen auslöste.

Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets im türkischen Luftraum an der Grenze zu Syrien hatte Moskau im November letzten Jahres gegen Ankara weitreichende Sanktionen verhängt. Kremlchef Wladimir Putin war außer sich und erklärte die Türkei für russische Pauschaltouristen über Nacht zur „No-Go-Area“. Türkische Studenten und Bauarbeiter mussten das Land verlassen. Das russische Staatsfernsehen stilisierte seither den türkischen Autokraten zum Inbegriff des Satans. Der Hysterie auf beiden Seiten haftete etwas Künstliches an. Trotz aller Propaganda gegeneinander waren sich die Kontrahenten eigentlich nie fremd.

Nicht weniger als einen Neubeginn erwartet der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, wenn er im russischen St. Petersburg mit Präsident Wladimir Putin zusammentrifft. „Bei den Gesprächen mit meinem Freund Wladimir wird eine neue Seite in den beiderseitigen Beziehungen aufgeschlagen“, kündigte Erdoğan vor seinem ersten Auslandsbesuch nach dem Putsch an.

Gewendet hatte sich das Blatt, als Erdoğan Ende Juni in einem Brief an die Angehörigen um Entschuldigung für den Abschuss eines russischen Kampfjets im Grenzgebiet zu Syrien im November 2015 bat. Zusätzlich ließ Erdoğan die Piloten verhaften, die für den Abschuss des russischen Flugzeugs verantwortlich waren. Damit endet eine siebenmonatige Phase eingefrorener Beziehungen, mit der Putin unerwartet hart auf den Abschuss reagiert hatte.

Inzwischen hob die russische Regierung den Einfuhrstopp für türkische Lebensmittel auf und lässt wieder Pauschalreisen in die Türkei zu. Nun soll auch das Projekt Turkish Stream wiederbelebt werden. Die Pipeline durch das Schwarze Meer soll russisches Gas in die Türkei und weiter nach Südeuropa transportieren. Außerdem könnte der russische Staatskonzern Rosatom den Bau des Atomkraftwerks Akkuyu fortsetzen.

Neben gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen eint die Präsidenten ein wachsender Abstand zu Westeuropa und zum Modell liberaler Demokratie. So war Putin unter den Ersten, den Putsch vor drei Wochen in der Türkei zu verurteilen. Zu den von Erdoğan so bezeichneten „Säuberungen“ in Armee, Verwaltung und Justiz äußerte sich die russische Regierung hingegen sehr verhalten.

Erdoğan und Putin konzentrieren die Macht in ihren Händen. Und während Erdoğan eine Re-Islamisierung der Türkei betreibt, fördert Putin eine Besinnung der russischen Gesellschaft auf das traditionelle Weltbild der orthodoxen Kirche.

Gegensätzliche Sicherheitsinteressen

Doch bleiben gegensätzliche Interessen bestehen, vor allem in der Sicherheitspolitik. Russlands Anspruch auf eine privilegierte Einflusszone in seiner Nachbarschaft reicht bis an die Staatsgrenzen der Türkei heran. Sie betrifft eine Region, um die beide Seiten in der Vergangenheit zahlreiche Kriege geführt haben.

Beispielsweise geht es um die militärische Kontrolle über das Schwarze Meer im Norden der Türkei. Auch signalisierte Erdoğan, dass er über den Umgang Russlands mit den turksprachigen Tataren auf der Krim nicht einverstanden ist.

Im Osten der Türkei wiederum liegt Armenien. Dessen Sicherheit garantiert Russland unter anderem mit einer Luftwaffenbasis und einer Militärbasis direkt an der türkischen Grenze.

Deutlicher zutage treten derzeit die Interessengegensätze an der Südgrenze der Türkei: In Syrien war es bislang Erdoğans Ziel, die Führung um Präsident Bashar al-Assad abzulösen. Erdoğan unterstützte dazu oppositionelle Kräfte. Russland hingegen stabilisiert mit seinem Militäreinsatz die Macht Assads.

Auch kooperiert Russland wie der Westen mit kurdischen Kräften in Syrien. Zudem bildet es mit dem Iran eine Allianz und stärkt im Nahen Osten die schiitische Achse, zum Missfallen der Türkei und der arabischen Staaten.

Russland in der stärkeren Position

Die militärische Position Russlands ist so stark, dass Erdoğan eingestand: „Ohne Russland ist es unmöglich, in Syrien eine Lösung zu finden. Nur in Zusammenarbeit mit Russland können wir die Krise in Syrien lösen“, sagte der Staatschef der russischen Agentur Tass zufolge.

So zahlt es sich für Putin aus, das Risiko des Militäreinsatzes eingegangen zu sein. Auch die USA müssen in Syrien in Absprache mit Putin agieren, wollen sie nicht eine Konfrontation mit der russischen Armee riskieren. Dies entspricht dem Anspruch Russlands, auf Augenhöhe mit den USA zu agieren und in weltpolitische Entscheidungen eingebunden zu werden.

Doch Russland bekommt inzwischen den Preis für die Position der Stärke zu spüren. So mehren sich die Vorwürfe, dass auch bei russischen Luftangriffen syrische Zivilisten getötet wurden. Die russische Armee musste in den vergangenen Wochen mehrfach den Tod von Soldaten in Syrien vermelden.

Und der Einsatz belastet den russischen Staatshaushalt, der unter dem wirtschaftlichen Abschwung infolge des Ölpreisverfalls, der Sanktionen und der strukturellen Defizite in der russischen Wirtschaft leidet. Als Folge des russischen Embargos gegen Produkte aus der EU und der Türkei stiegen die Lebensmittelpreise.

Insofern ist es auch im Interesse der Führung in Moskau, den russischen Markt wieder zu öffnen und für den Moment stärker auf Kooperation und Kompromisse zu setzen – auch mit Erdoğan.

von

Günter Schwarz – 10.08.2016