Die Linkspartei war einmal ein Sammelbecken für Unzufriedene. Inzwischen aber gilt die einstige Protestpartei für viele als etabliert, die Unzufriedenen wählen heute AfD. Was also tun? Mitregieren oder schärfer attackieren? Es ist ein alter Streit neu aufgelegt.

Links eine sechsspurige Hauptverkehrsachse, rechts mischen sich Altbau und Platte, dazwischen hat die Linkspartei Bierbänke und eine kleine Bühne aufgebaut. „… und die Stadt gehört euch“ steht auf ihren Plakaten. Längst ist auch dieser Bezirk irgendwie hip – steigende Mieten und Gentrifizierung ein Mega-Thema im Berliner Wahlkampf.

Die boomende Hauptstadt hat andere Probleme als das Flächenland Mecklenburg-Vorpommern und dennoch fragen sich nun auch in Berlin alle, wie die AfD am kommenden Sonntag, den 18. September, abschneidet? „Klar gibt es auch hier und da Ressentiments, aber das ist nicht wahlentscheidend““, glaubt der Spitzenkandidat der Linkspartei, Klaus Lederer. Seine Erfahrung: „Die Menschen auf der Straße wollen über soziale Gerechtigkeit sprechen.“

Lederer bemüht sich um eine differenzierte Botschaft im Wahlkampf: Niemand solle glauben, dass etwa ohne Flüchtlinge die Wohnungsnot verschwinden würde. Es gehe darum, für alle Verbesserungen zu erkämpfen.

Nach der aktuellen ARD-Vorwahlumfrage könnte die Linkspartei bei der Abgeordnetenhauswahl deutlich dazugewinnen. Sie käme auf 15 Prozent (2011: 11,7) – gleichauf mit der AfD. Die SPD bliebe stärkste Partei – mit gerade mal 21 Prozent müsste sie sich aber zwei Koalitionspartner suchen. Wird Berlin möglicherweise nach Thüringen das zweite rot-rot-grüne Bundesland? Er mache Wahlkampf für die Linke, so Spitzenkandidat Lederer, schiebt aber gleich hinterher: „Dass wir in Berlin regieren können, haben wir bewiesen.“

Seine These: Es brauche eine „soziale Alternative zu Merkel“. Wenn SPD, Grüne und Linkspartei sich nicht ernsthaft um eine Koalition links der Mitte bemühten, werde die AfD immer weiter wachsen.

Zwingt die neue Partei am rechten Rand die Linkspartei also an die Macht? Ist die Antwort darauf, dass die AfD Protestwähler in allen Schichten mobilisiert, dass die Linke dann eben regieren muss? Bisher definierte sie sich schließlich vor allem als Sammelbecken für Protestwähler – etwa gegen Hartz IV.

Der ehemalige Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi denkt bereits laut über einen Rollenwechsel nach. Die Linkspartei müsse Machtoptionen eröffnen. Gerne in Mecklenburg-Vorpommern, spätestens aber bei der Wahl am kommenden Sonntag in Berlin. Dem „Tagesspiegel“ sagte Gysi: „Es geht mir nicht um eine Regierungskonstellation oder Ministerposten, sondern um die historische Verantwortung. Wenn die Union nicht in die Opposition geschickt wird, wird die AfD immer stärker.“

Zurück zum Wahlkampfstand. Mittlerweile haben sich an die 250 Menschen versammelt, fast alle sind wegen Sahra Wagenknecht da. Die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei eilt direkt von der Haushaltsdebatte im Bundestag auf den Berliner Bürgersteig. Auch sie treibt die AfD um. Doch Wagenknecht zieht eigene Lehren. Das Wahlergebnis in Mecklenburg-Vorpommern sei „nicht gerade ein Regierungsauftrag“. Die Linkspartei müsse sich doch fragen, warum sie plötzlich als Teil des politischen Establishments gilt. Das müsse man dringend ändern und die Sozialpolitik von CDU, SPD und Grünen scharf attackieren. Den Berlinern ruft Wagenknecht zu: „Wer glaubt, dass die AfD das erreicht, hat nichts verstanden. Das geht nur mit einer starken Linkspartei.“

Es ist der alte Richtungsstreit in der Linkspartei – und die Erfolgsserie der AfD wirkt wie ein Katalysator. Braucht es lauteren Protest, schärfere Attacken gegen Hartz IV, Werksverträge, Leiharbeit? Oder muss die Linke Kompromisse suchen, um in Regierungsbeteiligungen einen Politikwechsel zu erreichen?

Das stellt der zweite Fraktionsvorsitzende, Dietmar Bartsch, im Bundestag in Aussicht. Bei der traditionellen Generaldebatte in der Haushaltswoche spricht er noch vor der Kanzlerin und bietet „den lieben Sozialdemokraten“ und insbesondere SPD-Chef Sigmar Gabriel unter bestimmten Bedingungen eine „Alternative zu Merkel“: Die Linkspartei wolle diesen Politikwechsel auch in Regierungsverantwortung übernehmen. Bartsch betont: „Dass das ein für allemal klar ist, meine Damen und Herren – und zwar wir alle.“

Das zielt wohl auch auf seine Co-Vorsitzende. Sahra Wagenknecht klatscht dazu, aber – wie es anschließend aus den eigenen Reihen heißt – mit ziemlich spitzen Fingern. Doch gänzlich schließt auch sie die Machtoption nicht mehr aus. Zu Hause im Saarland verkündete Oskar Lafontaine gerade, bei der Landtagswahl im Saarland im März 2017 sehe er Chancen für Rot-Rot-Grün. Es wäre die bisher erste Regierungsbeteiligung der Linkspartei in einem westdeutschen Bundesland.

Und das zweite Streitthema? Der Umgang mit der Flüchtlingsfrage? Hier hat man einen Satz gefunden, hinter dem sich alle in der Partei versammeln können. Bartsch ruft ihn im Plenum den Abgeordneten der CSU zu – und Wagenknecht kann damit genauso im Straßenwahlkampf von Berlin Tempelhof punkten: „Die teuersten Flüchtlinge“, betonen beide, „sind die Steuerflüchtlinge.“

von

Günter Schwarz – 13.09.2016