Seit Jahren prägt Wladimir Putin die Weltpolitik wie kaum ein anderer. Jeder kennt ihn vom Sehen, aber niemand weiß, wer er ist. Aber wer ist eigentlich dieser Mann, über den nur so wenig Privates nach außen dringt? Was treibt den ehemaligen sowjetischen KGB-Agenten an?

Es war der letzte Tag im Dezember, da erhielt Ljudmila Alexandrowna Putina einen denkwürdigen Anruf. Eine Freundin gratulierte ihr per Telefon – doch nicht zum bevorstehenden neuen Jahrtausend, sondern zu etwas, von dem sie bis dahin keinen blassen Schimmer hatte: zur soeben verkündeten Präsidentschaft ihres Mann Wladimir Putin, die noch in dieser Nacht beginnen sollte. Die künftige First Lady soll daraufhin in Tränen ausgebrochen sein.

Diese Szene, die der amerikanische Autor Steven Lee Myers in seinem Werk „Putin – der neue Zar. Seine Politik – Sein Russland“ beschreibt, ist in vielerlei Hinsicht typisch. Und auch das, was in den Stunden darauf folgte: In der ersten Sitzung des Sicherheitsrates erklärte Putin, der bis dahin russischer Ministerpräsident war, dass es eine neue Ära beim Militär geben und Russland seine Bewaffnung verbessern werde. Noch am selben Tag unterzeichnete er einen Erlass, der seinem Vorgänger im Präsidentenamt, Boris Jelzin, eine Reihe von Vergünstigungen sowie Immunität vor Strafverfolgung gewährte. Dann machte er sich mit seinem Nachfolger beim Inlandsgeheimdienst FSB und seiner Ehefrau auf den Weg nach Tschetschenien, wo Russland seit Oktober einen erbitterten Krieg führte. Bei den in Gudermes stationierten russischen Soldaten bedankte er sich und erklärte: „Es geht hier nicht nur um die Wiederherstellung von Russlands Ehre und Würde. Es geht darum, die Auflösung der Russischen Föderation zu stoppen.“

Tatsächlich zeigte sich schnell, dass in Russland nicht nur ein neues Jahrtausend, sondern auch eine neue Ära angebrochen war. Die Zeit des schwer kranken und zum Gespött der Nation verkommenen Boris Jelzin, der sein Land ins Chaos gestürzt hatte und Putin als seinen „letzten Trumpf im Ärmel“ bezeichnet hatte, war endgültig vorbei. Sein Nachfolger hätte gegensätzlicher kaum sein können: ein mit 47 Jahren Jahren noch junger und sportlicher Ex-Agent, den seine Jahre als KGB-Agent und das Trauma der zerfallenen Sowjetunion nachhaltig geprägt hatten, wie Myers in seinen fesselnd erzählten Kapiteln zum Werdegang des jungen Putin eindrücklich aufzeigt.

Der Kampf nach außen, die Besinnung auf nationale Größe, kennzeichnet von Beginn an Putins Politik. Dabei bemühte er sich allerdings zunächst, so wie es Myers, langjähriger Moskau-Korrespondent der „New York Times“, schildert, durchaus um eine Annäherung an den Westen. So nahm er zeitweise jeden Tag eine Stunde Englischunterricht, um sich mit US-Präsident George W. Bush persönlich unterhalten zu können. Als erstes Staatsoberhaupt rief er nach den Anschlägen vom 11. September im Weißen Haus an. „Das Gute wird über das Böse siegen“, versicherte er Bush und versprach: „Ich möchte Ihnen versichern, dass wir in diesem Kampf vereint sein werden.“

Doch die Eintracht währte nicht lange. Auch wenn Bush ihn auf seine Ranch einlud und Putin dessen „so großen Charakter“ als Glücksfall für die Amerikaner lobte, blieb die von Putin erwartete Gegenleistung des Westens aus. All seinen Einwänden zum Trotz kündigte Bush 2002 einseitig den ABM-Vertrag auf und weigerte sich, einem Abbau der Atomwaffen zuszustimmen.

„Tiefes Gefühl der Kränkung und des Verrats“

Der dann folgende Irakkrieg tat das Übrige, um Putins Misstrauen gegenüber dem Westen zu nähren – ein Gefühl, das sich in den folgenden Jahren verfestigte und mit einem erstarkten Nationalismus einherging, laut Myers geboren aus einem „tiefen Gefühl der Kränkung und des Verrats“. Maßgeblich bestimmte beides fortan die Politik gegenüber der Ukraine. Bereits 2004 versuchte Putin, massiv Einfluss auf die dortige Politik zu nehmen. Die dortige Orangene Revolution, die sich gegen den gefälschten Wahlsieg von Präsident Viktor Janukowitsch wandte, wurde laut Myers „Putins schlimmster Alptraum“ und im Kreml als ominöse Warnung aufgefasst. Ein Alptraum, der sich ein knappes Jahrzehnt später mit den Demonstrationen auf dem Maijdan für ein EU-Assozierungsabkommen wiederholte. Doch diesmal reagierte Putin entschlossen, indem er völkerrechtswidrig die Krim annektierte und die „Befreiungskämpfe“ in der Ostukraine begann. Die Meinung des Westens scherte ihn nicht mehr.


„Putin – der neue Zar“ von Steven Lee Myers, ISDN 978-3-280-05602-8, Preis: 29,85 €
Im Inneren begann Putin als Reaktion auf die Orange Revolution eine verschärfte Jagd auf „ausländische Spione“, die der US-Journalist detailliert beschreibt. Der Druck auf die Opposition und Medien, die im Übrigen schon beim Tschetschenien-Krieg im Jahr 2000 weitgehend ausgesperrt worden waren, erhöhte sich. Und nicht nur das: Ob Journalisten wie Anna Politkowskaja oder sogenannte Verräter wie der Ex-Agent Alexander Litwinenko oder oppositionelle Politiker wie Boris Nemzow – sie alle starben in der Ära Putin durch Anschläge, die nie richtig aufgeklärt wurden. Auch wenn Putin nichts davon gewusst haben mag, fällt es laut Myers schwer zu behaupten, „seine Epoche sei nicht vom Blut seiner schärfsten Kritiker besudelt“.

So wie Putin sogenannte Verräter erbarmungslos abstraft, so loyal ist er gegenüber seinen Freunden, von denen viele noch aus St. Petersburg und dem Geheimdienst stammen. Diese können den Staat plündern, allein bei den Olympischen Spielen in Sotschi versickerten Milliarden. Es war ein „Fest der Korruption“, wie es Nemzow nannte, das viele alte Freunde Putins sehr reich machte.

Machtpolitiker durch und durch

Dass Putin mit 20 staatlichen Residenzen, Dutzenden Yachten und Flugzeugen ebenfalls im Luxus schwelgt, wird auch in dieser Biographie erwähnt. Allerdings, so stellt es Myers dar, liege dem russischen Präsidenten dabei „weniger an den Insignien des Reichtums als an denen der Macht.“ Putin ist ein Machtpolitiker durch und durch, und Myers zitiert den britische Autoren James Meek mit den Worten: „Es ist die Idealvorstellung eines absoluten Zynikers, Wladimir Putin, das einzige Ideal, das ein absoluter Zyniker haben kann, dass Menschen keine Ideale haben.“

Bei aller ikonenhaften Darstellung Putins durch ihn und seine Propagandisten, die die „Größe seines Schaffens“ lobend mit Errungenschaften Stalins vergleichen, bleibt er doch ein Mysterium, das auch Myers in seiner extrem spannenden und mit 600 Seiten sehr detailreichen Biographie nicht gänzlich ergründen kann. Putins Privatleben bleibt für die Öffentlichkeit ein Mysterium, in Filmen lässt er sich als einsamen Herrscher darstellen, der vor allem arbeitet und viel Sport treibt.

Die Folge davon ist aber, dass nach Jahren im Rampenlicht Putin laut Myers zu einer „immer ferneren Figur“ wurde, ähnlich den Generalsekretären der Sowjetunion und den Zaren, mächtig und unangreifbar. Was zu dem Phänomen führte, das Putins ehemaliger Berater Gleb Pawlowski so beschreibt: „Wir reden viel zu viel über Putin. Putin ist unser Nullpunkt, eine Lücke, ein Bildschirm, auf den wir Wünsche, Liebe und Hass projizieren“.

von

Günter Schwarz – 19.09.2016