„Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage“ (To be, or not to be, that is the question) ist ein Zitat, dass nahezu jeder kennt oder zumindest schon einmal gehört hat. Zitiert wird der Satz in der Regel in Situationen, die für jemanden existenziell von Bedeutung sind. Dass dieses Zitat aus der Tragödie Hamlet, Prinz von Dänemark, von William Shakespeare aus dem 3. Aufzug in der 1. Szene stammt, ist schon weniger Menschen bekannt. Das noch heute in aller Munde befindliche Zitat entstand bereits 1601 oder 1602 – also vor mehr als 400 Jahren!

In dem Stück beginnt der Protagonist Hamlet mit diesem Satz einen Monolog, in dem er darüber nachdenkt, dass er vor entschlossenem Handeln Scheu hat, weil er trotz seiner Todessehnsucht und seinem Weltschmerz Angst vor dem Tod hat. Die Zerrissenheit der Figur wird in diesem Monolog, der weder der emotionalen Tragik noch des philosophischen Tiefgangs entbehrt, deutlich.

Das Sein und das Nichts: In der Philosophie werden diese beiden Grundgedanken meist gegenübergestellt. Sie sind aber mehr als nur Gegensätze, meint der Philosoph Dieter Henrich in einem kürzlich erschienenen Buch. / Literaturhinweis: Dieter Henrich: Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, C.H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-66324-6

Beide Grundgedanken finden sich bei den Schriftstellern Friedrich Hölderlin und Samuel Beckett. Für Hölderlin ist das Sein der Urgrund, aus dem sich alles entfaltet hat. Für Beckett bestimmt das Nichts die menschliche Existenz. Dennoch stehen sich die beiden philosophisch gebildeten Schriftsteller nicht fern – so lautet die Grundthese von Dieter Henrich.


Philosoph Dieter Heinrich aus Marburg
Um diese These zu begründen, begibt er sich in seinem 493 Seiten umfassenden Buch „Sein oder Nichts“ auf eine schwierig nachzuvollziehende Expedition ins Reich des Sein und des Nichts.

Von der Seelenverwandtschaft zwischen Beckett und Schopenhauer weiß man einiges. Beide, so behauptete 1982 der Philosoph Ulrich Pothast, verstanden sich als pessimistische Aufklärer, die den Menschen die unerträgliche Nichtigkeit ihres Daseins vor Augen führten. Aber Beckett und Hölderlin? Das klingt kurios. Was hat der Dichter des Seins mit dem Dichter des Nichts gemein?

Hölderlins paradiesischer Naturzustand

Vorerst stellt Henrich – ein Spezialist für den Deutschen Idealismus – Beckett als Leser Hölderlins vor. Das ist überraschend, zählt doch Hölderlin zu den Dichtern, dessen anspielungsreiche Texte besonders schwierig zu lesen sind. Beckett, der „Deutsch im Selbststudium“ lernte, ließ sich keineswegs auf das Gesamtwerk Hölderlins ein; ihn faszinierten die sogenannten „späten Gedichte“, die der psychisch kranke Schriftsteller in Tübingen verfasst hatte.

Der Beginn der intellektuellen Laufbahn Hölderlin begann vielversprechend: Er besuchte mit Hegel und Schelling das Tübinger Stift, wo sie eine gemeinsame Philosophie entfalteten, die auf das Sein ausgerichtet war. Das Sein verstand Hölderlin als „Einigkeit mit allem, was lebt“. „Eins zu sein mit Allem, das ist das Leben der Gottheit, das ist der Himmel der Menschheit“, so heißt es zu Beginn von Hölderlin Roman „Hyperion“.

Er sprach vom „absoluten Sein“, vom Unendlicheinigen“, das sich der rationalen Annäherung entzieht. Das Sein verstand Hölderlin als paradiesischen Naturzustand, in dem Empfindungen, Phantasien und Gedanken noch miteinander vernetzt sind: „O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt!“

Becketts Vorliebe für ein Schreckgespenst

Das Nichts beschäftigt die Philosophen seit Parmenides, wie Henrich in einem eigenen Kapitel ausführt. Das Nichts wurde vielfach als Mangel jeglichen Seins denunziert. „Was weder ist, noch möglich ist“ – so schrieb der deutsche Philosoph Christian Wolff – „nennt man nichts“. Während außereuropäische Denkströmungen – wie etwa der Zen-Buddhismus- das Nichts kultivierten, ist diese Thematik zum Schreckgespenst für die europäische Philosophie geworden.

Wie kaum ein anderer Schriftsteller hat Beckett das Nichts in seinen Romanen und Theaterstücken thematisiert. Das Nichts taucht in verschiedenen Ausprägungen auf; als Scheitern, Versagen, Verkrüppelung, zielloses Weitermachen. Die Protagonisten seiner Romane und Theaterstücke wie Wladimir, Estragon, Hamm, Clov, Molloy oder Malone vegetieren nur mehr als Restposten menschlichen Existierens. Becketts Rumpfexistenzen hausen in Tonnen oder vertreiben sich ihren Lebensekel mit sinnentleerten Dialogen und dem Warten auf eine unbestimmte Gestalt namens Godot, die freilich niemals kommt.


irischer Schriftsteller Samuel Beckett (1906 – 1989)
Der Roman „Molloy“ schildert den körperlichen und geistigen Zerfall der Titelfigur. Er wohnt im Zimmer seiner Mutter; wie er da hingekommen ist, weiß er nicht. Im Endstadium seiner Existenz beobachtet er die nachlassenden Körperfunktionen und sein schwindendes Bewusstsein. Becket schreibt: „Alles verschwimmt. Noch ein wenig mehr und man ist blind. Es sitzt im Kopf. Er tut nicht mehr mit, er sagt: Ich tue nicht mehr mit. Taub wird man auch, und die Geräusche werden schwächer. Kaum dass man die Schwellen überschritten hat, ist es so“.

Scheitern als Gemeinsamkeit

Was nun Beckett und Hölderlin verbindet – so Henrich – ist das Scheitern. Das klingt für Beckett einleuchtend; aber warum ist auch das Scheitern für Hölderlin signifikant, der ja vom absoluten, ozeanischen Sein ausging, von jener „friedlichen, seligen Einigkeit, wo Alles Eins ist“?

Diese Frage beantwortete Hölderlin selbst in seinem Roman „Hyperion“. Dort beklagt sich der gleichnamige Protagonist über den Verlust des „Urgrundes des Seins“, für den er die menschliche Reflexion verantwortlich macht.


deutscher Lyriker Friedrich Hölderlin (1770 – 1843)
Zitat: „Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden, habe gründlich mich unterscheiden gelernt von dem, was mich umgibt, bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte und vertrockne an der Mittagssonne.“

Die Rationalität als Dressurakt

Die Reflexion teilt nach Hölderlin – in der Tradition von René Descartes – die Welt in Subjekt und Objekt, in eine res cogitans (gedachte Sache) und in eine res extensa (erweiterte Sache). Dadurch wird die ursprüngliche Einheit zwischen Mensch und Natur zerstört. Die Reflexion vertreibt den Menschen aus dem paradiesischen „Ur-Zustand“ und setzt ihn dem Dressurakt der Rationalisierung aus, der für die Unterdrückung der Triebe, der Emotionen, der Phantasie und der Träume fungiert.

Hat man, wie Hyperion, das absolute Sein erlebt, wird das menschliche Leben in eine Verfallsgeschichte transformiert. Im „Schicksalslied des Hyperion“ heißt es: „Es schwinden, es fallen / Die leidenden Menschen / Blindlings von einer / Stunde zur andern, / Wie Wasser von Klippe / Zu Klippe geworfen, / Jahr lang ins Ungewisse hinab.“

Ins „Ungewisse fallen“

Mit dem „Fallen ins Ungewisse“ sind Beckett und Hölderlin unterschiedlich umgegangen. In seinem Roman „Murphy“ beschrieb der irische Schriftsteller, wie sich der Protagonist des Romans aus der Alltagswelt ausklinkt, weil sie ihn von seiner Lieblingsbeschäftigung – der Meditation – abhält.

Um dieser Nicht-Tätigkeit intensiv nachzugehen, fesselt sich Murphy mit verschiedenen Schals an seinen Schaukelstuhl und verharrt darin, bis er einen Nirwana-artigen Zu-Stand erreicht: Diese ekstatische Selbst- und Weltverlorenheit, in die er möglichst oft eintaucht, nennt Murphy „die kleine Welt“. Sie ist sein Refugium – der Ort, wo sich Murphy ungehindert in sein Unbewusstes vertiefen kann, ohne auf die Außenwelt reagieren zu müssen.

Einen anderen Weg des „Fallens ins Ungewisse“ beschritt Hölderlin. Er erlitt 1806 einen völligen psychischen Zusammenbruch und verbrachte 37 Jahre im Haushalt einer verständnisvollen Tischlerfamilie in Tübingen. Dort verbrachte er die Tage – ähnlich wie Becketts Theaterfiguren – mit unaufhörlichem Gehen, Gestikulieren, Schreianfällen und Wutausbrüchen.

Manchmal schrieb er noch kurze Gedichte, die Beckett so schätzte und die er mit Scardanelli signierte. Ein Beispiel: „Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen / Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen, / April und Mai und Julius sind ferne / Ich bin nichts mehr; ich lebe nicht mehr gerne!“.

von

Günter Schwarz  – 29.10.2016