Für jeden zweiten Türken in Deutschland sind die Gebote der Religion wichtiger als das Gesetz. 60 Prozent von ihnen wählen Erdoğan – prozentual mehr als in der Türkei selbst. Ist die Integration gescheitert?

Als in Istanbul Brücken gesperrt wurden und Militärflugzeuge im Tiefflug über die Stadt zogen, standen in Berlin mitten in der Nacht 3.000 Menschen vor der türkischen Botschaft und schwenkten türkische Fahnen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte seine Landsleute dazu aufgerufen, auf der Straße die „Demokratie“ zu verteidigen gegen die Putschisten. Seine Verteidigungslinie reichte bis nach Deutschland.

Rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln leben hier. Seit dem gescheiterten Putsch gehen Erdoğan ­-Fans auch in Deutschland mit Gewalt und Einschüchterungs-Aktionen gegen die Kritiker ihres Präsidenten vor. Besonders exponiert sind Kurden und Anhänger des türkischen Predigers ­Fethullah Gülen, den Erdoğan für den Putschversuch verantwortlich macht.

Prozentual hat Erdoğan in Deutschland mehr Anhänger als in der Türkei. Rund 60 Prozent der Türken in Deutschland wählten bei den Parlamentswahlen 2015 seine Partei, die AKP. Zum Vergleich: In Großbritannien wählten 20 Prozent der Türken die AKP. In der Türkei waren es knapp 50 Prozent.

Die AKP steht mittlerweile für einen islamistischen Kurs. Das laizistische Erbe von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der türkischen Republik, wird beseitigt. Sein Porträt hängt in den Amtsstuben der AKP-Politiker wie immer, aber es ist nur noch ein zynisches, folkloristisches Zitat. Dass 60 Prozent der Türken in Deutschland einem Mann mit zweifelhaftem Demokratieverständnis die Stimme geben, wirft auch Fragen bezüglich ihrer Integration in Deutschland auf. Sind die Türken hier überhaupt angekommen?

Geht es nach Erdoğan selbst, dann sollen sie in Deutschland ohnehin nicht zu heimisch werden. Bei einem Besuch in Köln 2008 sagte er, Integration sei gut, Assimilation hingegen „ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.

Erdoğan weiß, wenn diese Türken Deutsche werden, dann werden sie eher Demokraten und wenn sie Demokraten sind, geben sie ihm tendenziell nicht mehr die Stimme. Auch deshalb hintertreibt er die Anpassungsbemühungen seiner Leute. Erdoğan ist sich seines deutschen Machtreservoirs bewusst.

Die Religion als Spaltpilz

90 Prozent der türkischstämmigen Menschen fühlen sich in Deutschland wohl oder sehr wohl, dies laut einer neuen Umfrage der Universität Münster. Trotzdem sehen sich 50 Prozent der 1200 Befragten in Deutschland als Bürger zweiter Klasse. Integration, Sprach­erwerb, Kontakt zu Deutschen – dies alles hält eine große Mehrheit für wichtig. Geht es allerdings um Fragen der Religion, weichen die Antworten vieler von den Vorstellungen der deutschen Gesellschaft deutlich ab.

47 Prozent stehen zum Beispiel hinter der Aussage: „Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe.“ 32 Prozent sind der Ansicht: „Muslime sollten die Rückkehr zu einer Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten des Propheten Mohammeds anstreben.“ 23 Prozent denken: Muslime sollten es vermeiden, dem anderen Geschlecht die Hand zu schütteln. Die Zustimmungsraten zu diesen Aussagen nehmen bei der zweiten und dritten Generation jeweils leicht ab.

Eine ebenfalls neue Studie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozial­forschung zeigt, dass Menschen türkischer Herkunft in Deutschland deutlich ärmer sind, ein niedrigeres Bildungs­niveau und mehr gesundheitliche Be­schwerden als andere Immigranten haben. Die Integration der Türken in Deutschland ist ambivalent, sicher keine Erfolgsgeschichte und dies auch ganz im Sinne Erdoğans.

von

Günter Schwarz – 22.11.2016