Einer Haftstrafe in Tunesien entzog er sich 2010 durch Flucht. Seitdem fiel er in Italien und Deutschland durch Straftaten auf und „verbreitete ein Klima des Schreckens“. Zwei Tage vor Weihnachten gilt der als „Gefährder“ eingestufte Tunesier Anis Amri nach Erkenntnissen von Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt als „dringend Tatverdächtiger“ hinter dem Attentat von Berlin. Am Montagabend war ein Sattelschlepper auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gefahren. Dadurch starben zwölf Menschen, rund 50 wurden teils lebensbedrohlich verletzt. Das ist über Anis Amri bekannt.

Amris Geldbörse samt seiner Duldungspapiere lagen in dem Lastwagen, zudem wurden seine Fingerabdrücke an dem Lkw gefunden. Am Mittwoch veröffentlichte die Bundesanwaltschaft einen europaweiten Fahndungsaufruf und setzte eine Belohnung von bis zu 100.000 Euro aus.

Das ist über den mutmaßlichen, dringend Tatverdächtigen bekannt:

Er wurde am 22. Dezember 1992 geboren, an diesem Donnerstag wird er 24 Jahre alt. Er ist 178 cm groß, wiegt circa 75 kg, hat schwarze Haare und braune Augen. Er gilt als gewalttätig, kriminell und verließ sein Heimatland im Alter von ungefähr 17 oder 18 Jahren.

Seine Familie wohnt im Ort Oueslatia in der nordöstlichen Provinz Kairouan, einer Salafisten-Hochburg. Einem Bericht der Zeitung „Al-Chourouk“ zufolge sagte seine Familie aus, dass sie keinen steten Kontakt mit Amri hatte, seitdem er das Haus Ende 2010 während der Wirren des „tunesischen Frühlings“ verlassen hat.

In Tunesien beging Amri seine erste Straftat: 2010 stahl er einen Lastwagen. Kurz danach verließ er Tunesien. Er wurde in Abwesenheit zu fünf Jahren Haft wegen Raubes verurteilt. Sein Vater sagte dem tunesischen Sender Mosaique FM, Anis Amri habe Tunesien vor rund sechs Jahren verlassen. Er konnte offenbar in den Revolutionswirren kurz nach dem Sturz von Diktator Ben Ali flüchten.

Abdelkader Amri, einer seiner Brüder, ruft ihn zur Aufgabe auf. „Ich kann nicht glauben, dass er das Verbrechen begangen hat.“ Sollte sich wider Erwarten doch herausstellen, dass sein Bruder für den Anschlag verantwortlich sei, verdiene er „jede Strafe“, fügte er hinzu. „Ich bitte ihn, sich der Polizei zu stellen“, sagte er der Nachrichtenagentur AP.

Sie hätten vor ungefähr zwei Wochen das letzte Mal Kontakt gehabt, erzählte er der „Bild“. „Wenn bewiesen wird, dass er verwickelt war, sagen wir uns von ihm los.“ Möglicherweise sei sein Bruder in einem italienischen Gefängnis radikalisiert worden.

Der Nachrichtenagentur AP soll sein Bruder Abdelkader gesagt haben: „Ich bitte ihn, sich der Polizei zu stellen“. Über Facebook habe die Familie erfahren, dass Anis gesucht werde.

Dem Sender Sky News Arabia sagte ein anderer Bruder namens Walid, Anis habe Tunesien nach der Revolution verlassen und sei als Teil einer Gruppe nach Italien gereist. „Als er Tunesien verließ, war er ein normaler Mensch“, sagte Walid. „Er hat Alkohol getrunken und nicht einmal gebetet.“ Möglicherweise habe er sich im Gefängnis verändert, wo er „Algerier, Ägypter und Syrer“ getroffen habe.

2011 kam er auf der sizilianischen Insel Lampedusa als Bootsflüchtling nach Italien, wie die dortige Nachrichtenagentur Ansa berichtete. Dort wurde er in einem Auffanglager auf Sizilien untergebracht. Anis Amri behauptete damals, minderjährig zu sein, er war jedoch bereits 19 Jahre alt.

Nach Presseberichten fiel er schon als Schüler in Italien als Gewalttäter auf. „Er schuf in der Klasse ein Klima des Schreckens“, schrieb die italienische Tageszeitung „La Stampa“ über die kurze Zeit des Tunesiers an einer Schule in Catania auf Sizilien 2011. Der junge Mann habe dort Eigentumsdelikte, Drohungen und Körperverletzung begangen. Als man versuchte, ihn zur Raison zu bringen, habe Amri rebelliert. „Seine Geschichte als guter Migrant endete mit dem Versuch, die Schule anzuzünden“, schrieb das Blatt unter Berufung auf seine Strafakte.

Laut der Nachrichtenagentur Ans habe er in einem Auffanglager Revolten gegen „Ungläubige angezettelt. Mit anderen Flüchtlingen habe er das Lager angezündet. Wie die „Welt“ aus italienischen Regierungsquellen erfuhr, wurde er 2011 im Ort Belpasso nahe der sizilianischen Metropolitanstadt Catania verhaftet. Er wurde wegen Sachbeschädigungen und „diversen Straftaten“ (Gewalttaten, Brandstiftung, Körperverletzung und Diebstahl) in Palermo zu vier Jahren Haft verurteilt. Mithäftlinge hätten ihn als gewalttätig beschrieben. Er verbüßte seine Strafen in Haftanstalten in Catania und Palermo.

Im Mai 2015 wurde er entlassen und zur Abschiebung in Abschiebehaft in die zentralsizilianische Stadt Caltanissetta verlegt, aus der er wenige Wochen später entlassen wurde. Die Italiener mussten Amri laufen lassen – genau wie die deutschen Behörden –, weil Tunesien Amri nicht offiziell anerkannte.

Den italienischen Behörden liegen nach Information der „Welt“ Fingerabdrücke und Fotos von Amri vor.

Amri kam im Juli 2015 nach Deutschland. Er sei „hochmobil“ gewesen, berichtet Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD). Er tauchte zunächst in Freiburg in Baden-Württemberg auf, dann in Nordrhein-Westfalen und Berlin – dort habe er seit Februar 2016 überwiegend gelebt.

Sein Asylantrag war im Juni dieses Jahres vom zuständigen Bundesamt abgelehnt worden, die Behörden in Kleve (NRW) betrieben seine Ausweisung. Eine Abschiebung nach Tunesien missglückte, weil er keine gültigen Ausweispapiere hatte. Tunesien bestritt zunächst, dass es sich um seinen Staatsbürger handele. Schließlich stellte das nordafrikanische Land aber doch Ersatzpapiere aus, sie sind an diesem Mittwoch eingetroffen – zwei Tage nach dem Anschlag.

Amri verwendete mehrere Decknamen und wurde von mehreren Behörden als islamistischer Gefährder beobachtet. Er hatte Kontakt zur radikalislamistischen Szene. Die „Süddeutsche Zeitung“, NDR und WDR berichteten von Kontakten zum Netzwerk des kürzlich verhafteten Hildesheimer Salafisten-Predigers Abu Walaa, laut Jäger der „Chefideologe“ der Salafistenszene.

In Berlin wurde Amri von März bis September 2016 in der Hauptstadt überwacht. Die verdeckte Überwachung habe lediglich Hinweise geliefert, dass Amri als Kleindealer im Görlitzer Park in Kreuzberg tätig sein könnte, erklärte die Generalstaatsanwaltschaft. Nach einer Messerstecherei in Berlin-Neukölln wird laut „Bild“ gegen ihn wegen Körperverletzung ermittelt.

Gegen ihn wurde wegen Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat ermittelt. Laut Berliner Generalstaatsanwaltschaft hat sich dieser Verdacht trotz monatelanger Observation damals jedoch nicht bestätigt. Diese Erkenntnisse wurden den Angaben zufolge zur Strafverfolgung den zuständigen Dienststellen weitergeleitet. Für den ursprünglichen Verdacht, dass Amri sich mit einem Einbruch Geld für einen möglichen Anschlag beschaffen wollte, habe es aber keine Hinweise gegeben – trotz Verlängerung der Überwachung.

Bei einem V-Mann vom LKA will er sich eine automatische Waffen besorgen. Im September wurde die Observation Anis Amris in Berlin beendet. Im Oktober verlieren die deutschen Behörden seine Spur. Im November ist er wegen seiner IS-Kontakte Thema bei einem Treffen im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin, an dem 40 deutsche Sicherheitsbehörden teilnehmen.

Nach Informationen des „Spiegel“ lagen den Sicherheitsbehörden vor Monaten vage Hinweise darauf vor, dass er sich in der Islamistenszene als möglicher Selbstmordattentäter angeboten hat. Das legen frühere Ermittlungen gegen mehrere Hassprediger nahe. Entsprechende Äußerungen von Amri aus der Telekommunikationsüberwachung (Internet) seien aber so verklausuliert gewesen, dass sie nicht für eine Festnahme gereicht hätten.

Er war einer Zeitung zufolge auch den US-Behörden bekannt. Die „New York Times“ berichtet unter Berufung auf US-Kreise, Anis Amri werde auf den amerikanischen Flugverbotslisten geführt. Zudem habe er über den Internetdienst Telegram mindestens einmal Kontakt mit dem Islamischen Staat (IS) aufgenommen und online den Bau von Sprengsätzen recherchiert.

Für Hinweise, die zur Ergreifung des Beschuldigten führen, ist eine Belohnung von bis zu 100.000 Euro ausgesetzt. Hinweise bitte an das Bundeskriminalamt Tel.: 0800-0130110 (gebührenfrei), info@bka.de oder an jede andere Polizeidienststelle.

von

Günter Schwarz – 22.12.2016