Der Dalai Lama als antiklerikaler Kämpfer, gar als Mitstreiter Robespierres, Lenins oder Stalins? Hätte der Mönch in deren Zeiten gelebt, wäre er Revolutionär gewesen. Dies behauptet er in einem Interview mit russischen Medien anlässlich eines Treffens mit Buddhisten aus Ländern der ehemaligen UdSSR.

Mit dem russischen Nachrichtenportal lenta.ru sprach das geistliche Oberhaupt der Tibeter, der Dalai Lama über die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich sowie darüber, dass die Welt trotz allem besser werden würde.  

„Ich bin fasziniert vom Geist der Europäischen Union“

Er sehe den Westen als Teil der ganzen Welt, äußerte der Dalai Lama gegenüber dem Nachrichtenportal. „Egal, wo wir leben – in Russland, China, im Osten, im Westen, in Afrika oder Europa – wir alle sind die gleichen Menschen“, so der hohe buddhistische Geistliche. „Dem Menschen wohnt von Natur aus Mitgefühl inne. […] Leider gerät unsere grundlegende Natur durch den Druck von augenblicklichen politischen und nationalistischen Interessen im Alltag in den Hintergrund. So kommt es zu Morden und Aggressionen.“

Die modernen Wissenschaftler seien zu dem Schluss gekommen, dass in der Grundlage der menschlichen Natur nicht der Zorn, sondern das Mitgefühl liege, betonte der seit 1959 im Exil lebende Tibeter. Das flöße ihm Hoffnung ein. Das letzte Jahrhundert habe mit Kriegen begonnen und seine zweite Hälfte ging als Kalter Krieg, der von gegenseitigen Verdächtigungen und Misstrauen geprägt war, in die Geschichte ein. Dies sei „natürlich schlecht, aber immer noch besser als ein ,heißer Krieg‘.“

Seine Einschätzung der Europäischen Union unterscheidet sich augenscheinlich von jener eines immer weiter wachsenden Anteils an Euroskeptikern auf dem alten Kontinent. So äußerte der Dalai Lama: „Ich bin fasziniert vom Geist der Europäischen Union. Frankreich und Deutschland, die in der Geschichte verfeindet waren, sind nicht nur zu Freunden geworden, sondern haben am Ende des 20. Jahrhunderts die Leitung über den Einigungsprozess der europäischen Staaten übernommen. […] Im Gegensatz zur totalitären Sowjetunion, die auch deswegen unterging, entwickelt sich die Europäische Union auf demokratischer Grundlage. Daher bin ich der Meinung, dass die Welt im Ganzen besser wird.“


Dalai Lama und Angela Merkel
„Donald Trump muss sich nach der ihn umgebenden Wirklichkeit richten“

Mit Blick auf die bevorstehende Präsidentschaft Donald Trumps in den USA sieht der tibetische Geistliche keinen Grund, infolge dessen markiger Sprüche im Wahlkampf besorgt zu sein. Das System der Checks and Balances in den USA werde ihn zur Kompromissbereitschaft zwingen: „Donald Trump konnte es sich erlauben, frei über alles zu sprechen, solange er nur ein Präsidentschaftskandidat war. Jetzt aber, nachdem er gewählt wurde, liegt eine große Verantwortung auf ihm, und er muss sich nach der ihn umgebenden Wirklichkeit richten. Außerdem sind die Vereinigten Staaten ein demokratisches Land, der Kopf der freien Welt und ein Staat mit kollektiver Führung. In den USA existieren ein unabhängiges Gerichtssystem und ein Zweikammerparlament. Somit ist die Macht gut ausbalanciert. Ich denke, dass man sich hier also um nichts sorgen muss.“


Dalai Lama und Barack Obama
„In den westlichen Ländern trägt der Begriff ,weltlich‘ den Beigeschmack eines respektlosen Umganges mit Religion“

Auch zum Verhältnis zwischen Staat und Religion äußerte sich der Dalai Lama in seinem Gespräch mit Lenta. Kritiker werfen ihm vor, das Gottkönigtum über Tibet anzustreben und im Zusammenhang mit Unruhen in der zur Volksrepublik China gehörigen Provinz mehrfach eine unrühmliche Rolle gespielt zu haben.

Im Interview mit dem russischen Sender brachte Tenzin Gyatso, so der bürgerliche Name des Mönchs, hingegen sogar für radikal antireligiöse Bestrebungen der jüngeren Geschichte Verständnis zum Ausdruck.

So erklärte der Dalai Lama: „Ich verbinde mit dem Wort „weltlich“ […] den Respekt gegenüber allen Religionen, aber auch gegenüber Menschen, die an nichts glauben. In den westlichen Ländern und möglicherweise auch in Russland trägt dieser Begriff den Beigeschmack eines respektlosen und vielleicht sogar negativen Umganges mit Religion. Ich denke, Grund dafür waren die französische und danach die bolschewistische Revolutionen vor hundert Jahren, als die Menschen nicht gegen die Religion an sich auftraten, sondern gegen religiöse Einrichtungen. Und ich bin mit ihnen solidarisch.“

Der Geistliche zeigte sich sogar davon überzeugt, dass er selbst ein eifriger Protagonist der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ gewesen wäre, deren 100-Jahr-Jubiläum in diesem Jahr begangen wird. Der Dalai Lama ist sich sicher: „Wenn ich zu der Zeit gelebt hätte, hätte ich mich der Bewegung gegen religiöse Institutionen angeschlossen, denn sie haben damals offen die armen Menschen ausgenutzt und die Gläubigen manipuliert. Das ist absolut inakzeptabel. Daher wundert es mich auch nicht, dass sich die Menschen während der Revolutionen gegen die Religion auflehnten.“

von

Günter Schwarz – 16.01.2017