(Rom) – Die Europäische Union, die halten viele für graues Bürokratentum. Doch entstanden ist sie als Traum vom Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Vision wollen die Staats- und Regierungschefs in Rom wieder aufleben lassen – kleineren Skurrilitäten zum Trotz.

Pomp, Zeremoniell und eitel Sonnenschein: Man kann das Ergebnis der Feierlichkeiten zum 60. EU-Geburtstag dürftig nennen und die „Erklärung von Rom“ vorhersehbar. Auch die Tatsache, dass der Jubiläumsgipfel der Europäischen Union nach wenigen Stunden vorbei ist, spricht nicht für bahnbrechende Ergebnisse. Und doch ist es mehr als ein Hauch von Geschichte, der am Samstag über dem römischen Kapitolshügel weht. Das staatstragende Jubiläum entfacht ungeahnte Emotionen bei Gegnern und Befürwortern.

„Ich bin genau vor 60 Jahren geboren“ – mit dieser Feststellung beginnt der polnische EU-Ratspräsident Donald Tusk seine Festrede. Aber manchmal bedeute das Geburtsdatum weniger als der Geburtsort, fügt er hinzu. Tusk ist im April 1957 in Danzig geboren, einer Stadt, die in Hunderten Jahren von Polen und Deutschen, Holländern und Juden, Schotten und Franzosen erbaut worden sei. Im März 1945 zerstörten Hitler und Stalin Danzig in wenigen Stunden.

Man hat es schon gehört, und doch gelingt Tusk ein eindringlicher Appell. Für Millionen Menschen, auch die, die an diesem Samstag in Europa für die europäische Einigung demonstrierten, sei die EU eben kein Verein für leere Sprüche, Regulierungen und Bürokratie. „Unsere Union ist die Garantie, dass Freiheit, Würde, Demokratie und Unabhängigkeit nicht nur Träume sind, sondern tägliche Realität.“

Juncker will raus aus dem „Tal der Tränen“

60 Jahre europäischer Einigungsprozess sind ein Erfolg, der alle Erwartungen der europäischen Gründungsväter 1957 übertroffen hat, und die Europäische Union darf sich ruhig einmal dafür beglückwünschen. Kanzlerin Angela Merkel findet das Ereignis „sehr bewegend vor dieser historischen Kulisse“.

Bewegt sind auch die Demonstranten außerhalb des streng abgeriegelten Gipfelgeländes, sowohl Freunde als auch Gegner. Die Leute diskutieren sich die Köpfe heiß. Auf den Plätzen und Straßen Roms ist Politik plötzlich Thema Nummer eins. Viele verlangen einen Neustart der Gemeinschaft, raus aus dem „Brüsseler Tal der Tränen“, wie es EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker formuliert hat. „Das Jubiläum muss ein Punkt des Aufbruchs sein“, sagt Elisa, 33, aus Verona. Die Demonstranten kommen gehüllt in Europaflaggen, selbst ein Hund in Blau mit gelben Sternen ist zu sehen.

Empörung bei Gegendemonstranten

Unkritische Begeisterung bricht aber nicht aus. „Zurzeit überwiegen die Egoismen der Nationalstaaten, jeder nimmt sich selbst ein bisschen zu wichtig“, klagt Giovanni Garello, 76, Rentner aus Cuneo.

Empörung ist zu spüren bei den Gegendemonstranten. „Die EU ist ein Instrument der Märkte und zerstört die Zukunft der Jugend“, sagt Francesco auf der Demo „Eurostop“. Andrea beschwert sich über die Sparpolitik. Ein junger Arzt sagt: „Wir wollen raus aus der Union, weil Italien am Sterben ist.“ Schuld gibt er den „Technokraten“.

Die Polizei zeigt mit großem Aufgebot Präsenz. Aus Angst vor Ausschreitungen sind viele Geschäfte in Rom geschlossen, viele Römer haben aus Furcht vor Chaos die Stadt verlassen. Ein paar Dutzend verdächtige Protestler hält die Polizei schon außerhalb Roms auf.

Der Festakt selbst geht wohlgeordnet über die Bühne, wenn auch nicht ohne Skurrilitäten. EU-Kommissionschef Juncker unterzeichnet die Erklärung zum Jubiläum mit einem historischen Füllfederhalter – genau dem, den die Delegation seines Heimatlandes Luxemburg vor 60 Jahren genutzt hatte. Luxemburg, Deutschland und die anderen vier Gründerstaaten schufen damals die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Ganz unfallfrei hantiert Juncker nicht mit seinem Füller: Er beschmiert sich die Finger mit Tinte.

Östliche EU-Länder lenken ein

Polens Ministerpräsidentin Beata Szydlo unterzeichnet nicht ohne Anspielung auf ihren vorigen Protest. Sie nimmt Platz, blickt ins Rund, lässt den Stift schweben über dem Papier. Nach geleisteter Unterschrift breitet sie die Arme aus, was wohl so viel heißen soll wie „Na, seht ihr“.

Szydlo hatte vorab damit gedroht, die Erklärung nicht zu unterschreiben, am Ende aber lenkte sie ein. Wie andere östliche EU-Länder befürchtet Polen, bei den Diskussionen über ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten abgehängt zu werden.

Mal wieder hat die Europäische Union die Kurve gekriegt. Den Stolz auf Erfolge der Vergangenheit, die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft, das alles wird die Staatengemeinschaft noch bitter nötig haben in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten. Am Mittwoch wird Großbritannien seinen offiziellen Austrittsantrag in Brüssel einreichen. Und bald stellt sich in Frankreich die Europagegnerin Marine Le Pen zur Wahl. Europa muss um sich kämpfen.

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dpa – 26.03.2017