Wenn Bücher verboten werden, da man befürchtet, die Lektüre würde eine „Vermischung der Rassen“ begünstigen oder propagandieren, dann erinnert man sich in Deutschland schnell an den 10. Mai 1933, an dem in Berlin von Studenten, Professoren und nationalsozialistischen Parteiorganen Bücher und Schriften verbrannt wurden, die als „wider dem deutschen Geist“ erklärt wurden. Darunter befanden sich u. a. Bücher von Erich Kästner, Oskar Maria Graf und Bertold Brecht. Besonders betroffen waren Bücher und Schriften jüdischer Schriftsteller, da diese einen „Widerspruch zwischen Schrifttum und deutschem Volkstum“ darstellte. Der Jude könne nur jüdisch denken. Schreibt er deutsch, dann lügt er. Auch Filme, Lieder, Gemälde oder Skulpturen jüdischer Künstler galten als „entartet“ und landeten auf dem Index.

Solche beschämenden Aktionen gegen Literatur und Kunst im Allgemeinen wirken heutzutage befremdlich und unvorstellbar. Ganz Insbesondere für Deutsche und Juden wäre ein Aufleben solcher Traditionen ein schändliches Zeugnis.

Der israelische Bildungsminister Naftali Bennett ließ einen autobiografischen Roman der israelischen Schriftstellerin Dorit Rabinyan von den Listen der in Schulen zugelassenen Literatur streichen, da er befürchtete, das Buch würde junge Menschen zur Nachahmung anleiten. Nun geht es in dem Buch nicht um illegale Autorennen oder Bau von Sprengstoff, sondern um Liebe. Explizit um die Liebe der Israelin Liat zu dem Palästinenser Chilmi.

Die beiden Protagonisten der sensibel gezeichneten Liebesgeschichte treffen sich in New York und verleben dort einen sehr kalten und natürlich heißblütigen Winter. Mehr als zwei Menschen braucht es nicht für die Liebe. Es ist eine Liebe in den Zeiten des Nahost-Konfliktes. Liat und Chilmi wissen, dass ihre Liebe in der Heimat, getrennt durch Zäune und Checkpoints, keine Zukunft haben kann.

Dass die Liebe von Liat und Chilmi nicht nur im Roman, sondern auch im wirklichen Leben, sehr kompliziert sein kann, musste die Autorin Dorit Rabinyan am eigenen Leib erfahren. Ihr Buch sei „gefährlich“ und wurde von den Lektürelisten der Schulen in Israel gestrichen.

Damit hat Rabinyan in Israel einen veritablen Skandal ausgelöst, der das Buch bis hin zu der deutschen Ausgabe begleitet, die inzwischen unter dem Titel „Wir sehen uns am Meer“ im Verlag Kiepenhauer & Witsch erschienen ist. Rabinyan selbst sieht sich als Patriotin, und es sei nie ihre Absicht gewesen, mit ihrem Roman eine politische Aussage zu machen oder Menschen zu beeinflussen. Wie die Leser ihren Roman verstehen, läge jeweils in der Verantwortung des Lesers, betont sie. Warum das Buch letztlich auf dem Index landete erschließt sich nur im Kontext einer verdrehten israelischen Politik. Das Bildungsministerium argumentiert, dass Jugendliche vor der „Gefahr der Assimilierung geschützt“ werden müssten. „Intime Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden bedrohen die getrennten Identitäten.“

In Deutschland klingen solche Sprüche sehr vertraut und hinterlassen einen sehr fahlen Beigeschmack.

Der Schock über den Angriff auf ihren Roman sitzt tief bei Dorit Rabinyan – weil sie Patriotin ist und weil sie Literatin ist. Als Patriotin nimmt sie den Kampf auf, der in Israel auf allen Ebenen tobt zwischen den Rechten und den alten Linken. Sie selbst ordnet sich dem linken „Friedenslager“ zu, schwärmt von dem vor mehr als 20 Jahren ermordeten Premier Jitzchak Rabin. „Ich bin bei Demonstrationen mitgelaufen, seit ich 14 bin“, sagt die 43-Jährige, „immer unter dem Slogan, dass Juden und Araber sich weigern, Feinde zu sein.“ In diesem Geist hat sie auch ihre Romanfiguren angelegt: Die friedensbewegte Liat trifft auf Chilmi, einen durch und durch liebenswürdigen Araber, mit dem sich jeder identifizieren kann. Für die Rechten ist genau das wohl der Gipfel der Provokation.

Als Literatin will sie jedoch nicht provozieren. „Ich bin eine Geschichtenerzählerin“, sagt sie und möchte sich auch so verstanden wissen.

In Deutschland wird die Veröffentlichung des Romans weniger mit dem Skandal begleitet. Dies mag auch daran liegen, dass Kritik an Israel schnell als Antisemitismus verstanden werden könnte. Trotzdem muss es erlaubt sein, Dummes dumm zu nennen – oder frei nach Wallenstein:

„Nein, Naftali Bennett. Das war kein Heldenstück.“

Nach dem handfesten Skandal in Israel hat das Bildungsministerium seine Entscheidung nun „korrigiert“. Das Buch sei nicht verboten – es stünde nur nicht auf der Liste der Literaturempfehlungen für Schulen. Die Benennung der „Rassenschande“ hat das israelische Bildungsministerium in ihren Begründungen zum Glück (noch) nicht verwendet.

Wer für ein Wochenende eine liebenswerte Geschichte lesen möchte, dem sei der Roman von Dorit Rabinyan wärmstens empfohlen:

Titel: Wir sehen uns am Meer
Autor/en: Dorit Rabinyan 

ISBN: 3462048619
EAN: 9783462048612
Übersetzt von Helene Seidler
Kiepenheuer & Witsch GmbH 

August 2016 – gebunden – 378 Seiten

von
Michael Schwarz – 05. Mai 2017