Erst am Montag suchte die deutsche Bundeskanzlerin den türkischen Staatspräsidenten auf, um mit ihm über die weitere Umsetzung des zwischen der Türkei und der EU vereinbarten Flüchtlingsabkommens zu sprechen, da die Türkei durch den vom Staatspräsidenten initiierten „Umbau des Staates“ von einer Demokratie in einen weitgehend durch den Staatspräsidenten gelenkten Staat, der nur wenig demokratische Kontrolle zulässt, die Forderungen der EU nach einer weiteren Demokratisierung kaum wird umsetzen können und dadurch die in dem Vertrag vereinbarte Visabefreiung ihrer Bürger in die EU ernsthaft gefährdet und gar unmöglich macht.

Die hinter verschlossenen Türen geführten Gespräche brachten den Worten der Kanzlerin Angela Merkel nach kaum eine Annäherung zu den Positionen des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der auf seine harte Haltung beharrt. Dennoch ließ Frau Merkel nach dem Gespräch vor ihrer Abreise nach Deutschland diplomatisch verklausuliert verlauten, sie gehe davon aus, auch die Türkei würde es aus eigenem Interesse nicht zu einem Scheitern des Flüchtlingsabkommens kommen lassen, wenngleich man sich nicht auf eine Übereinkunft in der Frage der Visafreiheit habe einigen können. Insofern klang das Resümee der Kanzlerin wenngleich nicht optimistisch so doch zumindest „verhalten zuversichtlich“.

Dieser „verhaltenen Zuversicht“ bereitete Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nur einen Tag später, am gestrigen Abend, ein jähes Ende, das nichts Gutes erwarten lässt, denn Erdoğan verkündete, er werde dem türkischen Parlament wissen lassen“, dass dieses das Flüchtlingsabkommen mit der EU nicht ratifizieren soll. – Und „wissen lassen“ heißt im Demokratieverständnis à là Erdoğan, er wird das Parlament anweisen, dem Vertrag nicht zuzustimmen!

Zwar ist es nach der (derzeit noch) geltenden Verfassung dem Staatspräsident nicht gestattet, dem Parlament „Ratschläge“ oder gar Anweisungen zu erteilen, aber das sind inzwischen „Nebensächlichkeiten“, über die sich heute in der Türkei kaum noch ein Bürger aufregt. Jeder weiß, was Erdoğan sagt, ist „Gesetz“, und alles andere kann zu unabsehbaren Problemen für jeden Kritiker führen, die kaum jemand einzugehen wagt.

Recep Tayyip Erdoğan erweist sich somit weiterhin als „der starke Mann“ in der Türkei, und er ist keineswegs und unter gar keinen Umständen bereit, in der Frage der Visafreiheit für türkische Bürger bei Reisen in den EU-Raum nachzugeben. Die 72 vereinbarten Punkte zwischen der EU Kommission und dem ehemaligen Regierungschef Davutoglu, die seitens der Türkei erfüllt werden müssen, um die Reisefreiheit ohne vorherige Beantragung eines Visums ihrer Bürger zu erhalten, interessieren den Staatspräsidenten offenbar überhaupt nicht. Er, Recep Tayyip Erdoğan, lässt sich von niemanden, einschließlich von  der EU oder von einer deutschen Kanzlerin, etwas sagen – und schon gar keine Kritik!

Somit wird es äußerst interessant sein, die weitere Entwicklung der Beziehung zwischen der EU und der Türkei zu beobachten, denn wollte Erdoğan mit seiner Drohung vom gestrigen Abend nur innenpolitisch seine Bürger beeindrucken und ihnen demonstrieren, der EU gegenüber hart bleiben zu wollen, oder will er tatsächlich auch die EU wissen lassen, dass er zwar nicht bereit ist, alle Forderungen vertragsgemäß erfüllen zu wollen und dennoch auf die Erfüllung seiner Forderungen in vollem Umfang pocht – einschließlich die der Visafreiheit!

Der völlige Bruch des Flüchtlingsabkommens wird sicherlich in Europa zu weiteren Problemen führen, die momentan kaum überschaubar sind und mit Sicherheit zu einem erneuten, ganz gewaltigen Anstieg der Flüchtlingszahlen führen, aber mit der derzeitigen Weigerung vieler EU-Mitgliedsstaaten besonders derer in Osteuropa aus dem ehemaligen sowjetisch dominierten „Ostblock“, überhaupt Flüchtlinge aus Nahost aufnehmen zu wollen, kann Herr Erdoğans Sturheit schlimmstenfalls zum Bruch der EU führen. Die außenpolitische Isolation, die der Türkei durch die harte Haltung seines Staatspräsidenten droht, kann Erdoğan anscheinend in keiner Weise beeindrucken.

Die künftige Entwicklung der Beziehung zwischen der EU und der Türkei verspricht in den kommenden Tagen und Wochen sehr interessant zu werden, und man kann nur hoffen, sie wird sich nicht zu einem Drama entwickeln, denn bei einem völligen Scheitern des Flüchtlingsabkommens wird es keinen Sieger und nur Verlierer geben – worunter in erster Linie besonders die betroffenen Flüchtlinge selbst die größten Verlierer sein werden!

von

Günter Schwarz – 25.05.2016