Die Deutschen rühmen sich oft damit, das Land der »Dichter und Denker« zu sein. Zurückzuführen ist dieses Zitat auf Wolfgang Menzel, der 1828 formulierte: „Die Deutschen thun nicht viel, aber sie schreiben desto mehr. […] Das sinnige deutsche Volk liebt es zu denken und zu dichten, und zum Schreiben hat es immer Zeit. Es hat sich die Buchdruckerkunst selbst erfunden, und nun arbeitet es unermüdlich an der großen Maschine. […] Was wir in der einen Hand haben mögen, in der anderen Hand haben wir immer ein Buch“.

Seit dem 18. Jahrhundert hat Deutschland sich verändert. Die »schönen Künste« haben inzwischen nicht mehr den gleichen Stellenwert, wie zu Zeiten von Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Immanuel Kant, Heinrich Böll, Heinrich von Kleist, usw. Diese Erfahrung hat auch Lena Boevaya gemacht, die als russische Theaterschauspielerin für ein Gastspiel das Land der »Dichter und Denker« besuchen durfte.

»Ich bin einigermaßen entsetzt darüber, wie wenig sich der Durschnitts-Deutsche für Kunst und Kultur interessiert. In Russland haben die Menschen noch viel mehr Achtung vor Theater oder Kunst im Allgemeinen. Hier ist es offensichtlich nur eine Freizeitbeschäftigung einer relativ kleinen Szene.«

, klagt die 24jährige Russin.

In der Tat ist es mit der Kultur nicht gut bestellt. Bei der Kulturförderung ist hierzulande immer der Rotstift im Spiel. Erst kürzlich beschloß der Kulturausschuss in Kopenhagen die Kürzung von Geldern für kleinere Theater zugunsten der größeren Bühnen. In Schleswig-Holstein fiel das Landestheater in Schleswig der Abrissbirne zum Opfer – noch immer gibt es keinen adäquaten Ersatz und die Öffentlichkeit interessiert sich inzwischen wieder für andere Themen. Wo immer Kultur abgebaut wird, wird es zwar einen kleinen Kanon der Empörung nach sich ziehen – der jedoch langfristig völlig im Sande verläuft. Am Ende verschwinden dann mehr und mehr Kulturstätten vollständig von der Landkarte. Theater und Spielstätten in ganz Deutschland kämpfen um das nackte Überleben.

Obwohl das Durschnittseinkommen in Russland weit unter dem europäischen Standard liegt, scheint es dort etwas anders zu sein:

»Viele junge Menschen interessieren sich bei uns für Kultur. Natürlich hat man all die Klassiker russischer Literatur gelesen und man ist stolz auf die traditionsreichen Theater in Moskau und Sankt Petersburg. Ein Besuch im Theater oder einer Kunstausstellung ist immer etwas ganz Besonderes.«

In Deutschland und Dänemark sieht das anders aus. Zu herkömmlichen Aufführungen im Theater, Oper oder Ballett wird man selten Zuschauer der jüngeren Altersklassen antreffen – wenn sie nicht gerade von den Eltern zu einem Besuch im Theater gezwungen werden. Viele kleine Bühnen müssen immer wieder Aufführungen absagen, weil die Zuschauer fehlen. Kunst und Literatur sind dann noch ein ganz besonderer Fall. Auch hier werden sich die Interessen von russischen und deutschen Jugendlichen weit voneinander unterscheiden.

Abschließend also die Frage an die »Dichter und Denker«: Wer war Wolfgang Menzel?

Lena konnte diese Frage, ohne lange nachzudenken, beantworten.

von
Michael Schwarz – 01.06.2016